Praktisch jeder Bürger war im alten Griechenland Politikexperte. Als Vorbild für moderne Gesellschaften taugt die attische Verfassung dennoch kaum, meint der Historiker Christian Meier.

München Gegenwärtig hat Griechenland keinen allzu guten Ruf. Das war nicht immer so. Im frühen 19. Jahrhundert zum Beispiel verehrten fortschrittliche Europäer ein idealisiertes antikes Griechenland als Gegenentwurf zu den restaurativen Regimes der damaligen Zeit. Der Althistoriker Christian Meier klärt im Interview über die Wirklichkeit der attischen Demokratie auf und beantwortet die Frage, ob wir von den alten Griechen noch etwas lernen können.
Herr Meier, Griechenland, vor allem Athen, gilt als Wiege der Demokratie. Was zeichnete die Demokratie der Griechen aus?
Wenn wir von der griechischen Demokratie sprechen, reden wir vor allem von ihrer extremsten Ausprägung, nämlich von Athen im fünften vorchristlichen Jahrhundert. Wir haben es dort wirklich mit einer Volksherrschaft zu tun, bei der ein großer Teil der Bürgerschaft ständig und unmittelbar mit Politik befasst war und in der Volksversammlung politische Entscheidungen getroffen hat. Man traf sich etwa alle zehn Tage auf dem Versammlungsplatz. Anwesend waren zwischen einem Sechstel und einem Zwölftel der rund 40 000 Bürger, vor allem jene, die im engeren Territorium der Stadt wohnten. Jeder durfte das Wort ergreifen, und jede Stimme galt gleich viel. Es gab in Athen keinen König, keine Regierung und so gut wie keinen Beamtenapparat, so dass die Volksversammlung tatsächlich das Gremium war, in dem alle wichtigen, die Gemeinschaft betreffenden Fragen entschieden wurden. Die Bürger mussten ihre Stadt sein.

Also kein repräsentatives System, sondern eine direkte Demokratie?
Die Griechen hatten eine ausgesprochene Abneigung gegen die Delegation von Macht. Wann immer Männer die Macht stellvertretend in ihren Händen hielten, befürchteten sie Missbrauch. Sie waren jedoch pragmatisch genug, um einzusehen, dass die mehr als tausend Menschen, die an einer Volksversammlung teilnahmen, Entscheidungen nicht ohne gründliche Vorbereitung treffen konnten. Deshalb etablierten sie den „Rat der 500“. Dessen Mitglieder wurden nicht durch Wahl bestimmt, sondern durch das Los. Dadurch war der Rat eine sehr repräsentative Auswahl aus der Bürgerschaft. Das Verhältnis lag bei einem Ratsmann auf rund achtzig Bürger. Bei Meinungsumfragen haben wir es heutzutage mit einer wesentlich kleineren Stichprobe zu tun. Hinzu kommt, dass die Mitglieder im „Rat der 500“ nur ein Jahr amtierten, dann wurden sie zu hundert Prozent ausgewechselt. In ihrem ganzen Leben durften sie das Amt höchstens zweimal ausüben, und sie bekamen Diäten. Dies zeigt die Skepsis gegenüber politischen Repräsentanten.

Welche Folgen hatte das für die politische Kultur?
Es führte zu einer Gesellschaft, die in hohem Maße politisiert war. Jeder Bürger sollte sich theoretisch an den Entscheidungen des Gemeinwesens beteiligen. Außerdem hatten viele gute Chancen, ein politisches Amt auszuüben. Neben dem „Rat der 500“ mussten auch die Gerichte besetzt werden. Das heißt, sehr viele mussten sich für Politik interessieren und darüber Bescheid wissen. An den antiken Tragödien, die für das breite Volk aufgeführt wurden, kann man noch heute sehen, was die Athener selbst einfachen Bürgern an intellektuellem Anspruch zumuteten, aber auch zutrauten. Die Griechen waren überzeugt: Wenn sich viele Menschen mit einer Sache beschäftigen, können sie ein hohes Maß an Kenntnis und Urteilsvermögen erlangen. Das ist wie heute beim Fußball. Mit ihm kennen sich viele Menschen so gut aus, dass fast jeder ein kompetentes Urteil abgeben kann.

Welche Rolle spielten dann in Athen die Politiker?
Grundsätzlich sollte jeder Bürger ein Politiker sein. Die meisten Bürger hatten Zeit dafür oder nahmen sie sich. Freilich mussten viele auch arbeiten, aber nicht immer gleich viel. Mancher hatte Sklaven,um den Haushalt kümmerten sich die Frauen. Wir können uns solche Verhältnisse heute schwer vorstellen, weil wir in einer hochspezialisierten Gesellschaft leben, in der wir nur noch in einem eng begrenzten Bereich über gute Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Selbstverständlich gab es aber auch in Athen Politiker. Das waren Männer, die weit gereist waren, glänzende Beziehungen und Kenntnisse besaßen und sich also auf das politische Geschäft gut verstanden. Denken Sie an den Staatsmann Perikles zum Beispiel, er ist noch heute einer breiteren Bevölkerung bekannt. Bestimmte Ämter wie die der Strategen – das waren Militärführer – wurden durch Wahl bestimmt und konnten wiedergewählt werden, weil dafür nicht jeder infrage kam. Dennoch waren alle Politiker darauf angewiesen, den Willen der Bürger zu erspüren und konnten sich nur in einem sehr engen Wechselspiel mit der Volksversammlung durchsetzen.