Dem Grünen-Politiker Cem Özdemir machen die seit vielen Tagen andauernden Proteste in Istanbul Hoffnung auf eine demokratische und tolerante Türkei, wie er im StZ-Interview erklärt.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Herr Özdemir, Sie haben die Demonstranten auf dem Taksim-Platz vor einigen Tagen besucht. Wie ist die Stimmung unter den Menschen?
Ich habe das Gefühl, da entsteht gerade etwas Neues. Das sind nicht nur Proteste, das ist eine Bewegung, die das Zeug hat, die Türkei nachhaltig zu verändern. Man bekommt eine Ahnung davon, wie die Türkei sein könnte, wenn der Staat seine Bürger so leben lassen würde, wie sie selbst gerne wollen. Auf diesem Platz stehen Kurden und eher nationalistisch ausgerichtete Türken Seite an Seite, dort stehen Sunniten und Aleviten zusammen, Frauen mit und ohne Kopftuch. Das macht mich optimistisch. Allerdings weiß niemand, wie die Regierung mit der Lage umgeht.

Haben Sie die Demonstrationen überrascht?
Was hier neu ist, sind die jungen Leute, die zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren, die keiner Organisation angehören und denen es tatsächlich um Selbstbestimmung, Ökologie und Demokratie geht. Ihnen geht es um eine grundsätzlich andere Politik, die sie ernst nimmt. Diese zivilgesellschaftliche Bewegung ist eine neue Qualität für die Türkei.

Es geht also, vereinfacht gesagt, um den Kampf der Moderne gegen die Tradition?
Erdogan beschwört häufig die glorreiche Türkei zu Zeiten des osmanischen Reiches aus dem späten 16. Jahrhundert. Andere schwärmen vor allem von der Türkei der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts. Jetzt haben wir zum ersten Mal Leute, die sich nicht mit der Geschichte, sondern mit der Zukunft der Türkei beschäftigen. Diese jungen Menschen entziehen sich den gängigen politischen Schemata. Das ist wirklich etwas Neues, etwas sehr gutes.

Wird es am Ende einen Verlierer des Kampfes geben oder hoffen Sie noch auf einen Kompromiss?
Natürlich hoffe ich, dass es nicht zu einer Eskalation kommt. Die Menschen erwarten jetzt aber auch eine Veränderung. Erdogan hat ja Recht, wenn er sagt, dass er demokratisch gewählt wurde. Aber auch die Gegner haben Recht, wenn sie sagen, dass eine gewonnene Wahl nicht bedeutet, dass die Sieger den Verlierern ihren Lebensstil aufzwingen. Wer Raki trinken will, hat die gleichen Recht, wie jene, die nicht Raki trinken wollen. Das muss Erdogan verstehen, sonst gefährdet er die Zukunft seines Landes.

In der EU kommt die Forderung auf, den Beitrittsprozess auf Eis zu legen. Ist das eine gute Idee?
Wir dürfen nicht den letzten Hebel zur Unterstützung der Demokratisierung der Türkei aus der Hand geben. Es würde das Gegenteil davon bewirken, was wir uns erhoffen: eine europäischere und demokratischere Türkei. Wir sollten uns hüten, die Demonstranten mit Stillstand in den Verhandlungen zu bestrafen. Die Regierung in Ankara hat ein Problem mit den Werten und Standards der EU – nicht die jungen Leute in der Türkei. Das sind Europäer.