Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir kündigt im Interview mit der Stuttgarter Zeitung eine Opposition im Bund an, die nicht zu allen Vorhaben der großen Koalition Nein sagt. Die Grünen verstünden sich als „Opposition im Wartestand“.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)
Berlin – - Um dem Bündnis aus CDU/CSU und SPD im Bundestag etwas entgegensetzen zu könnten, mahnt Özdemir, brauche die Opposition allerdings mehr Rede- und Kontrollrechte.
Herr Özdemir, in Hessen werden die Grünen demnächst mitregieren. Im Bundestag fristen sie ein Dasein als kleinste Oppositionsfraktion. Bereuen Sie inzwischen, die Gespräche mit der Union nicht zu einem anderen Ende geführt zu haben?
Es ist immer bedauerlich, wenn man nicht regiert. Wir spüren das bei jedem Thema, das die große Koalition angeht: bei der Rente, der Vorratsdatenspeicherung, der Energiepolitik. Insofern wäre es gut, wenn wir regieren würden. Aber die Zeit für Schwarz-Grün im Bund war noch nicht reif. Die Gespräche sind vor allem auch daran gescheitert, dass der Preis für Frau Merkel ein deutlich höherer gewesen wäre als der, den sie jetzt an die SPD zahlen musste. Wir hätten deutlich mehr verlangt.
Aber warum ist ein stramm Konservativer wie Volker Bouffier für die Grünen koalitionsfähig, eine Frau wie Merkel nicht, deren Prinzipien doch weitaus flexibler sind?
Was die Prinzipien angeht, so will ich Ihnen nicht widersprechen. Auch die Beweglichkeit von Frau Merkel hat jedoch Grenzen, wenn sie eine noch beweglichere SPD vorfindet. Die haben Frau Merkel doch in weiten Bereichen freie Hand gelassen: etwa bei der Europapolitik oder beim Betreuungsgeld. Oder gar bei der doppelten Staatsbürgerschaft. Da hat sich die SPD mit weniger zufriedengegeben, als Horst Seehofer uns zu geben bereit war. Da staune ich Bauklötze.
Hat Schwarz-Grün in Hessen Modellcharakter für den Rest der Republik?
Als Parteivorsitzender freue ich mich natürlich, wenn wir in sieben Ländern regieren. Zudem stärkt es uns strategisch. Dieses Bündnis erweitert auch unsere Einflussmöglichkeiten im Bund. Es folgt aber nicht zwangsläufig daraus, dass wir’s jetzt überall so machen können. Wir wollen überall stärker werden – so dass man an uns nicht vorbeikann. Im Bund haben wir jetzt dreimal Rot-Grün versucht und sind daran gescheitert. Deshalb wird es keinen Sinn machen, sich wieder allein darauf zu kaprizieren. Wir werden mit einem eigenständigen Kurs in die nächste Wahl gehen.
Wenn der Frankfurter Flughafen kein Hemmnis mehr für Schwarz-Grün ist, warum sollte das dann nicht überall möglich sein?
Man kann Länderpolitik nicht eins zu eins auf den Bund übertragen. Aber richtig ist: Die hessische CDU war in der Vergangenheit ja nicht für eine Linkslastigkeit berühmt. Und wenn in Hessen eine gemeinsame Regierung erfolgreich funktioniert, ist das eine weitere Option für uns. Das freut mich.
Erkennen Sie bei der Union so etwas wie einen Kulturwandel?
Natürlich, das kann man doch nicht leugnen. Die Union von heute hat mit der Partei von Kohl und Strauß nicht mehr viel gemein. Mittlerweile gibt es auch in deren Reihen Abgeordnete nichtdeutscher Herkunft und Abgeordnete, die sich offen dazu bekennen, schwul zu sein – undenkbar noch vor 20 Jahren. Da verändert sich was, und zwar in unsere Richtung.
Im Bundestag haben die Grünen es schwer als kleinste Fraktion. Welche Rolle bleibt Ihnen da?
Die größte Schwierigkeit wird darin bestehen, der Versuchung des Populismus zu widerstehen. Wenn Gregor Gysi mit seiner Truppe sich aufführt, als würde er mit der   Schrotflinte rumballern, und unterschiedslos alles kritisiert, was die Koalition macht, dann dürfen wir dem nicht folgen. Das passt nicht zu uns. Die große Koalition hat auch manches vor, was richtig ist: der Mindestlohn zum Beispiel. Warum sollten wir da grundsätzlich dagegen sein?
Sehen Sie andere Gründe, die Koalition zu loben?
Auch dass Rainer Baake Staatssekretär für die Energiepolitik wird, finde ich erfreulich – nicht nur, weil er ein Grüner ist. Es könnte auch ein Signal sein, dass die große Koalition bemüht ist, mit den Ländern sinnvolle Kompromisse zu finden. Da wird man nicht nur über das EEG-Gesetz für den Vorrang erneuerbarer Energie reden, sondern auch über das Beihilfeverfahren aus Brüssel in Sachen Industrierabatten bei der EEG-Umlage und den europäischen Emissionshandel. Wir werden uns konstruktiven Gesprächen nicht verschließen. Allein schon deshalb, weil aufgrund der Verhältnisse im Bundesrat anders gar keine Lösungen erreichbar wären.
Die Grünen wollen also eine konstruktive Opposition sein?
Wir verstehen uns als Regierung im Wartestand. Wir wollen nicht zu allem Nein sagen, nur weil ein Vorschlag von den Falschen kommt. Wir werden die Regierung konstruktiv und kritisch begleiten. Wenn die es sich zu bequem machen oder in die falsche Richtung marschieren, werden wir das geißeln. Da wird es genügend Gelegenheiten geben, wie man beim Thema Vorratsdatenspeicherung und dem ängstlichen Umgang mit Edward Snowden schon erkennen kann.
Haben die Grünen als Randexistenz im Bundestag überhaupt die Chance, ihre Positionen klarzumachen?
Ich bedauere sehr, dass die Koalition entgegen ersten Ankündigungen unmittelbar nach der Wahl der Opposition jetzt doch nur so etwas wie ein Gnadenrecht und allenfalls ein paar Minuten mehr Redezeit einräumen will. Das geht so nicht. Eine effektive Oppositionsarbeit und Kontrolle der Regierung braucht starke Minderheitenrechte. Als Opposition müssen wir uns darauf verlassen können, aus eigener Kraft eine Normenkontrollklage anstrengen oder einen Untersuchungsausschuss einrichten zu können. Das erfordert eine Änderung der Geschäftsordnung. Sonst wird Kontrolle zur Farce. Was die Redezeiten angeht, so werden sich die Bürger darauf einrichten müssen, dass die Bundestagsdebatten eher langweilig werden: Zu 80 Prozent ist das nichts anderes als Selbstbeweihräucherung, bei der die Abgeordneten der Koalition sich wechselseitig versichern, wie toll sie sind.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, die Grünen bräuchten einen „neuen Sound“. Was heißt das? Der neue Sound ist doch schon zu hören. Die Grünen reden jetzt auch mit den Schwarzen, ohne Schaum vor dem Mund zu bekommen. Wir wollen auch unser Verhältnis zur Wirtschaft wieder normalisieren. Unsere Forderung, die Rentenbeiträge zu senken, ist eine Entlastungsbotschaft für die Beitragszahler. Das würde auch dem Mittelstand helfen.