Der neue katholische Stadtdekan Christian Hermes spricht im Interview über den Papst, das Image der Kirche und die biblische Botschaft 2.0.

Stuttgart - Seit Juli ist Christian Hermes neuer Stadtdekan in Stuttgart, sein Wohnsitz ist das Haus der katholischen Kirche. Der 41-Jährige steht einer schrumpfenden Kirche vor: von den ehemals mehr als 200.000 Katholiken in der Landeshauptstadt sind 140.000 geblieben. Im Herbst startet die Kirche einen Erneuerungsprozess. "Wir müssen die Veränderungen als Chance sehen", sagt Hermes, der am Freitag offiziell in sein Amt eingeführt wird.

 

Herr Hermes, werden Sie den Papst bei seinem Deutschlandbesuch treffen?

Ich sollte an dem Tag gleichzeitig an drei Orten sein, was ich leider noch nicht hinkriege. So werde ich als Prediger beim Hundert-Jahr-Jubiläum der Reitergruppe Bierstetten-Renhardsweiler im Oberland sein, mit der ich jedes Jahr beim Blutritt in Weingarten mitreite.

Sind Sie ein Fan von Benedikt XVI.?

"Fan" ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Der Papst leistet einen wichtigen und schwierigen Dienst für die Weltkirche. Ich schätze seine theologische Klarsicht und hoffe, dass sein Besuch der Kirche in Deutschland wichtige Impulse geben wird.

Das Interesse an dem Papstbesuch ist gewaltig. Der Medienrummel beschert der Kirche unterm Strich aber keine neuen Mitglieder.

Auch wir haben uns in der Medienkultur zu bewähren, und zweifellos schafft es der Papst, Aufmerksamkeit zu erreichen. Oft denken wir aber noch in alten Kategorien. Wir setzen die Kirchenzugehörigkeit gleich mit katholisch gemeldet sein und allsonntags in die Kirche gehen. Inzwischen aber wissen wir aus der Soziologie, dass es ganz vielfältige Formen von Kirchenferne und Kirchennähe gibt. Es gibt zum Beispiel "Sympathisanten", die ein bestimmtes Segment aus dem, was die Kirche anbietet, für sich herausnehmen, die vielleicht zum Papstbesuch gehen, aber trotzdem nicht das Gesamtpaket wollen. Darauf müssen wir uns noch besser einstellen.

Nur noch ein Viertel aller Stuttgarter Kinder sind getauft, Tendenz stark sinkend. Sind das nicht ernüchternde Aussichten für einen frisch gewählten Stadtdekan?

Es heißt schon in der Bibel, wir sollen nüchtern und wachsam sein. Alle volkskirchlichen Heile-Welt-Fantasien mit großen Fronleichnamszügen sind für mich erledigt. Christentum als Mehrheitskultur, diese Zeiten sind erst einmal vorbei. Wir müssen auf die Anfänge schauen. Lange waren die Christen eine Minderheit, die sich mit den schönen Gleichnissen Jesu vom Reich Gottes über Wasser gehalten haben, zum Beispiel dem vom winzigen Senfkorn, das eine unheimliche Kraft entwickelt. Für mich ist die Frage heute: Glaube ich daran, dass es diese Dynamik des Reiches Gottes gibt, oder sehe ich uns als verschrumpelte Pflanze, die irgendwann auf dem Kompost der Geschichte landen wird.

Für viele hat die Kirche aber genau dieses Image einer altbackenen Institution. Wie wollen Sie die entstauben?

Entscheidend ist für mich nicht, dass es mit der Kirche bergauf geht. Ich habe mich für den Weg des Priesters entschieden, weil ich möchte, dass es mit der Welt und den Menschen aufwärts geht. Deshalb hat die Kirche Fragen zu stellen, die zentrale Themen unserer Zeit berühren, wie die nach der sozialen Gerechtigkeit, die Frage nach Sinn und Wahrheit des Lebens. Wir können nicht die Antworten von vor hundert Jahren geben, sondern müssen uns erst mal auf die Fragen von heute einlassen.

Wie sieht die biblische Botschaft 2.0 aus?

Das Zweite Vatikanische Konzil hat einen wichtigen Satz formuliert: Gott spricht die Menschen an wie Freunde und lädt sie zur Gemeinschaft mit sich ein. Ansprechend sein, freundlich, einladend, das soll Kirche sein. Ich habe in den vergangenen Jahren in einem Business-Netzwerk zu Gottesdiensten geladen und über meine Gemeinde berichtet. Die Rückmeldungen waren überraschend positiv. Inzwischen habe ich ein Netzwerk von 680 Menschen, die ich nicht bepredige und die ich auch nicht nach ihrer religiösen Zugehörigkeit frage. Darüber entstehen dann durchaus auch seelsorgerische Kontakte.

Wird es in zehn Jahren noch genügend Priester geben, die sich, wie von Ihnen gefordert, für soziale Gerechtigkeit einsetzen können?

Es hat im 19. Jahrhundert hier in Württemberg einen viel schlimmeren Priestermangel gegeben, als wir ihn heute erleben, dann ging es auch wieder aufwärts. Ohne die kritischen Anfragen zu übersehen: es kommt auch sehr darauf an, ob die Priester in ihrem Dienst und ihrer Existenz Wertschätzung erfahren oder ob sie gerade von ach so liberalen Leuten als schräge Vögel betrachtet werden. Das ist so ein toller Beruf, finde ich jedenfalls. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass sich auch wieder mehr Männer für den Priesterberuf entscheiden werden.

Gottestdienst nach dem Sonntagsbrunch

Auch die Kirche kommt an der Erkenntnis nicht vorbei, dass der soziale Bereich nicht unbegrenzt ausgebaut werden kann. Wie sieht Ihre Antwort darauf aus?

Ich denke, wir sind da in unserer Gesellschaft noch nicht ganz ehrlich. Der Weg einer immer weiter gehenden Professionalisierung im Sozialbereich ist, fürchte ich, langfristig nicht mehr finanzierbar. Stattdessen werden wir noch kreativer sein müssen und zum Beispiel Freiwilligendienste und soziale Tauschbörsen einrichten, vielfältige Formen des Ehrenamts in Verbindung mit Professionalität, von sozialer Vernetzung und nachbarlicher Hilfe finden.

Im Herbst startet die katholische Kirche in Stuttgart einen Erneuerungsprozess. Was soll erneuert werden?

Wir werden alle Bereiche unter die Lupe nehmen, unsere Gemeindearbeit, Seelsorge, Finanzen, Immobilien, Strukturen. Ein für mich sehr offensichtliches Beispiel: Warum müssen geschätzt 95 Prozent der Sonntagsgottesdienste zwischen 9 und 11Uhr stattfinden? Weil es eben in allen Gemeinden bisher so war. Im Blick auf die Stadt brauchen wir hier mehr Vielfalt und Zielgruppenorientierung.

Wird es schon bald den Gottesdienst nach dem späten Sonntagsbrunch geben?

Ja, warum nicht. Sonntag ist für viele Menschen der einzige Tag in der Woche, an dem sie ausschlafen können. Für die meisten, gerade Familien, ist eine Messe um 9.30 Uhr zu früh. Es ist kurzsichtig zu meinen, die Menschen haben kein Interesse an Gottesdiensten, bloß weil wir nicht dazu in der Lage sind, andere Zeiten anzubieten. Die Leute sollten wissen, wenn sie sonntags mit Brunchen fertig sind, können sie in einer Kirche eben auch um 15 Uhr eine Messe besuchen und dann gibt es vielleicht auch noch um 21 Uhr ein Angebot.

Wird am Ende dieses Erneuerungsprozesses in Stuttgart vielleicht auch ein katholisches Gotteshaus verkauft?

So weit sind wir noch lange nicht. Das ist die Ultima Ratio. Wir müssen aber mit offenen Karten spielen. Der Investitionsaufwand, den wir für den Unterhalt von Kirchen und Gemeindehäusern haben, ist mit sechs Millionen Euro dreimal so hoch wie die Mittel, die wir dafür zur Verfügung haben. Viele davon sind Betonbauten aus den 1960er und 1970er Jahren, bei denen teure Sanierungen anstehen und die Kosten für die Beheizung in die Tausende gehen. Wenn wir dann auf der anderen Seite wegen 500 Euro für eine Jugendfreizeit knausern müssen, stimmt da etwas nicht. Trotzdem geht es auf keinen Fall darum zu sagen, wir machen Kirchen platt, das wäre respektlos. Ich kämpfe für jeden Altar in Stuttgart.

Was wird aber aus den Gotteshäusern, die wenig genutzt werden?

Wir werden zunächst versuchen, Einnahmen zu erhöhen und kreative, vielfältige Nutzungen zu finden, die einander ergänzen und nicht ausschließen. Zum Beispiel könnte man einen Gottesdienstort mit einer Begegnungsstätte, einem Familienzentrum und einer Kita-Mensa kombinieren. Daran denken wir bei St. Stephan in der Rotenwaldstraße. Ich möchte den Leuten in der Stadt, die ihre Kirchensteuern zahlen, sagen können, wir gehen verantwortungsvoll mit eurem Geld um und versenken es nicht in Betonsanierungen.

Das heißt dann aber doch, dass in Zukunft nicht mehr in jeder Gemeinde alles angeboten werden kann?

Es müssen und können nicht alle alles machen. Ziel ist, dass jede Gemeinde eine Kirche und ein Gemeindehaus hat und dass es Mittel, ich sage mal, für den "Pflicht"-Bereich gibt. Im Bereich "Kür" werden wir Schwerpunkte bilden müssen, was ich nicht als Problem ansehe. Wir sind so mobil, dass wir für Sachen, die uns wichtig sind, auch in den Nachbarstadtteil fahren.

Die katholische Kirche steht für klare Hierarchien. Wer darf eigentlich mitreden bei diesem Erneuerungsprozess?

Ab Herbst möchte ich mit allen Kirchengemeinderäten sprechen und sie ermuntern, eine Bestandsaufnahme zu machen und selbst Ideen zu entwickeln, wie sie sich weiterentwickeln wollen. Gute Ideen sind herzlich willkommen. Für die Standortentwicklung haben wir ein Ingenieurbüro beauftragt. Im Moment arbeiten wir an einem Konzept zur Vermögensbewirtschaftung, das selbstverständlich in den demokratischen Gremien des Stadtdekanats beraten wird. Die Gemeinden werden auch in Zukunft bestimmen, wie sie ihre Steuerzuweisungen verwenden, sie werden aber Prioritäten setzen müssen, so wie das Stadtdekanat auch.

Das Dilemma der katholischen Kirche ist doch: Sie können vor Ort die vorbildlichste Arbeit machen, müssen aber jederzeit damit rechnen, dass Ihnen eine Entscheidung des Papstes die nächste Austrittswelle beschert.

Ich muss als Stadtdekan wissen, wo mein Gärtchen endet. Darüber hinaus muss ich akzeptieren, dass ich zu einer Diözese und einer Weltkirche gehöre, die viel von Gemeinschaft hält und weniger davon, dass jeder, der eine andere Meinung hat, seinen eigenen Laden aufmacht. Dieser globale Zusammenhalt ist toll, führt aber auch dazu, dass es manchmal ächzt im Gebälk.

Leidenschaftlicher Seelsorger und Kirchenmanager

Werdegang Christian Hermes hat für die Bischöfe Walter Kaper und Gebhard Fürst gearbeitet, jetzt ist er selbst eine Karrierestufe nach oben geklettert: Am 6.Juli wurde Hermes zum katholischen Stadtdekan gewählt. Der Geistliche ist 1970 in einem Ort bei Baden-Baden geboren, hat in Gernsbach sein Abitur abgelegt und sechs Jahre lang katholische Religion und Philosophie in Tübingen und Paris studiert. Von 2004 bis 2007 schrieb er seine Doktorarbeit und war Vikar in der Kirchengemeinde St. Petrus in Tübingen-Lustnau.

Ortskenntnis Im November 2007 wurde er Pfarrer in St. Elisabeth im Stuttgarter Westen, der mit 10.000 Mitgliedern größten katholischen Gemeinde in Stuttgart. Zum Priesterberuf gebracht haben ihn zwei Männer: sein Ortspfarrer und Walter Kasper.

Festgottesdienst Im Juli wurde er zum Nachfolger von Michael Brock gewählt, am Freitag um 18.30 Uhr wird er in der Domkirche St. Eberhard bei einem Gottesdienst in sein Amt eingeführt. Was Hermes am Priesterberuf schätzt, sind die Predigten und die vielen seelsorgerischen Kontakte, für die er sich auch künftig Zeit nehmen will. "Ich bin nicht Priester geworden, um nur Kirchenmanager zu sein."