Exklusiv Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall hält auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Vorratsdatenspeicherung für unverzichtbar. Einen nationalen Alleingang lehnt er jedoch ab. Sein Blick richtet sich auf Brüssel.

Stuttgart – - Die Verunsicherung ist groß, nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg die EU-Richtlinie zur Speicherung von Telekommunikationsdaten für grundrechtswidrig erklärte. Was tun? Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall rät davon ab, auf nationaler Ebene vorzupreschen. Er plädiert für eine europäische Regelung.
Herr Gall, was bedeutet das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Vorratsspeicherung für die Innere Sicherheit in Deutschland?
Dass wir bei der Verbrechensbekämpfung weiter eine offene Flanke aufweisen. Die müssen wir schließen.
Wie stellt sich das dar?
Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010 haben wir keine Vorratsdatenspeicherung mehr. Deshalb müssen wir aktuell auch nichts zurücknehmen. Die große Koalition in Berlin hatte sich aber darauf verständigt, dass die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung aus dem Jahr 2006 so umgesetzt wird, wie sie aus dem Verfahren vor dem EuGH herauskommt. Nur gibt es erst einmal nichts umzusetzen, weil das Gericht die Richtlinie verworfen hat. Wir stehen also nackt da.
Brauchen wir die Vorratsdatenspeicherung überhaupt?
Wir müssen in der Lage sein, mit kriminellen Netzwerken Schritt zu halten, die via Internet und Handy ihre Verbrechen vorbereiten. Deshalb brauchen wir selbstverständlich die Vorratsdatenspeicherung.
Es gibt doch schon alle möglichen Varianten des Überwachens und Abhörens – per Telefonüberwachung, mit dem Richtmikrofon oder mittels Wanze, zum Zwecke der Strafverfolgung wie auch präventiv zur Gefahrenabwehr. Welchen zusätzlichen Nutzen bringt da die Vorratsdatenspeicherung? Oder andersherum gefragt: Deutschland hat Ende 2007 die EU-Richtlinie umgesetzt, es gibt also – bis zum Veto des Bundesverfassungsgerichts – praktische Erfahrungen. Was besagen die?
Die Vorratsdatenspeicherung hat tatsächlich Erfolge gebracht. Es ist unbestreitbar, dass eine Verbindungsdatei häufig der einzige Ermittlungsansatz ist, den die Polizei bei bestimmten Straftaten hat. Auch dieser Ermittlungsansatz kann ins Leere laufen, aber es gibt Fahndungserfolge. Deshalb plädiere ich für die Vorratsdatenspeicherung. Wir schützen die Grundrechte. Doch zu denen gehört auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.
Was bedeutet das EuGH-Urteil – Sie sind ja nicht nur Minister für Sicherheit und Ordnung, sondern auch Verfassungsminister – für die Freiheit der Bürger?
Für die Freiheit der Bürger bedeutet es, dass dem Staat jede Möglichkeit genommen wird, notfalls auf eine Verbindungsdatei zuzugreifen.
Das ist Sarkasmus pur.
Es ist doch so: Der Staat will nicht all diese Daten erfassen und systematisch auswerten, sondern der Staat will die Möglichkeit haben, auf eine bestimmte, befristet gespeicherte Datei bei Vorliegen bestimmter schwerer Straftaten zuzugreifen.
Sie bedauern das Urteil?
Wenn der Europäische Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung gegen die Grundrechtecharta der Europäischen Union verstößt, dann kann ich das nicht bedauern, dann ist das so.
Und nun?
Der EuGH hat deutlich gemacht, unter welchen Bedingungen die Speicherung von Verbindungsdateien zulässig sein kann: wenn damit eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verbunden ist. Und dazu zählt auch, schwere Straftaten aufzuklären oder sie zu verhindern.
Lassen sich Grundrechtswahrung und Vorratsdatenspeicherung nach dem Urteil unter einen Hut bringen?
Ich denke ja.
Aber die Regelung, die sie wollen, verlangt weiterhin die Speicherung sämtlicher Kommunikationsdaten für eine bestimmte Zeit?
Genau. Der EuGH hat das auch nicht in Abrede gestellt. Er hat nur gesagt, die Regeln für den Zugriff müssen klar sein. Also: Beschränkung auf schwere Straftaten, Richtervorbehalt und klare datenschutzrechtliche Bestimmungen.
Datenschützer sagen, jeder Datenspeicher lädt zum Missbrauch ein. Je größer er ist, desto größer die Gefahr des Missbrauchs.
Wer die Daten nicht so verwendet, wie der Gesetzgeber vorschreibt, macht sich selbst strafbar. Ich habe da ein großes Vertrauen in den Staat und seine Institutionen.
Welche Speicherfrist schwebt Ihnen vor?
In der SPD haben wir uns nach langen Diskussionen auf drei Monate geeinigt. Als Innenminister habe ich mich stets für sechs Monate ausgesprochen, wie sie ja auch bundesgesetzlich festgelegt waren. Die jetzt verworfene EU-Richtlinie ermöglichte eine Speicherung bis zu zwei Jahren.
Was erwarten Sie jetzt von der Bundesregierung, vor allem von Ihrem Parteifreund Heiko Maas, dem Bundesjustizminister. Soll Deutschland mit einem Gesetz vorpreschen oder auf eine neue EU-Richtlinie warten?
Das Urteil ist gerade mal einen Tag alt. Wir müssen es prüfen und über Folgerungen nachdenken. Es bringt nicht unbedingt einen Sicherheitsgewinn, wenn jedes Land eine Extrawurst brät. Denn die Verbindungsdaten, auf die wir zugreifen wollen, erstrecken sich ja nicht nur auf Deutschland. Da kann richtig viel schief gehen. Nehmen wir die Speicherfrist: Da verfügt dann die Polizei in Frankreich über Daten, die sechs Monate alt sind, die wir aber womöglich nicht nutzen dürfen, weil bei uns nach drei Monaten gelöscht werden muss. Die Folge wäre ein hohes Maß an Rechtsunsicherheit und Fehleranfälligkeit. Deshalb sollte die künftige EU-Kommission nach ihrer Konstituierung zügig eine neue Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung erarbeiten. Da muss ja nicht immer zwei Jahre dauern.