Wir leben in grausamen Zeiten? Das beruhe auf einer verzerrten Wahrnehmung, sagt der US-Psychologe Steven Pinker im StZ-Interview.

Stuttgart - Serienmörder,Terroristen,Bürgerkriege: Viele glauben, es steht nicht gut um die Welt. Mit dieser pessimistischen Einschätzung will Steven Pinker aufräumen und führt dazu in seinem 1200 Seiten dicken Buch "Gewalt" viele Statistiken und psychologische Erklärungsmuster an. Seiner Ansicht nach leben wir heute in einer ungewöhnlich friedlichen Welt.

 

Herr Pinker, halten Sie die Menschen für die künftigen Probleme gerüstet?

Bisher ist es uns gelungen, Wohlstand und Wissen in fantastischem Ausmaß zu steigern und die Gewalttätigkeiten zu verringern. Daher haben wir die Werkzeuge, um diesen Trend auch in Zukunft fortzusetzen. Es gibt allerdings keine Garantie, dass wir diese Werkzeuge auch benutzen.

Welche Werkzeuge meinen Sie?

Wir sind in der Lage, die Welt zu analysieren, und haben gute Ideen. Ebenso wichtig sind die sozialen Errungenschaften: Meinungsfreiheit, Bildung und Informationstechnologien zum Beispiel. Durch kritische Prüfung erkennen wir die schlechten Ideen und sondern sie aus.

Wer täglich von Konflikten und Gewalt in der Zeitung liest, wird Ihren Optimismus womöglich nicht teilen.

Ich bin nicht unbedingt optimistisch, ich bin lediglich nicht pessimistisch. Die schlechten Nachrichten in der Zeitung belegen doch nur, dass die Welt voller Probleme ist. Aber sie zeigen nicht die Richtung an, und sie zeigen schon gar nicht, dass es schlimmer wird.

Aber haben wir denn nicht einen Wendepunkt erreicht? Wir verbrauchen die natürlichen Ressourcen in einer beeindruckenden Geschwindigkeit und finanzieren unseren Lebensstandard mit gigantischen Krediten. Zudem fordern ärmere Länder immer stärker ein, auch vom Wachstum zu profitieren.

In dieser pessimistischen Einstellung werden ganz unterschiedliche Trends zusammengemischt, die nicht mehr gemein haben als die Tatsache, dass sie problematisch sind. Man kann doch nicht sagen: Oh Gott, dies läuft schlecht und jenes auch - und daraus den Schluss ziehen, dass alles den Bach runtergeht. Abgesehen davon lassen sich Probleme im Prinzip doch lösen.

Trotzdem bleibt ein Gefühl von Unsicherheit: Wer weiß schon, wie sich die Dinge entwickeln werden?

Ach, in den 70er Jahren war es doch viel schlimmer als heute!Damals hätten sowjetische Truppen in Westeuropa einmarschieren können. Viele hatten Angst vor einem nuklearen Krieg, der alles Leben auf der Erde auslöschen würde. Die Inflationsrate lag höher als heute und es gab zwei Ölkrisen, in denen die Leute an den Tankstellen Schlange standen. Und in den damaligen Kriegen in Asien, Afrika und Lateinamerika starben sehr viel mehr Menschen als heutzutage. Man muss die Situation von damals mit der von heute vergleichen, um einen Trend herauszulesen.

Statistiken haben nicht unbedingt den besten Ruf, sie gelten als manipulierbar. Den persönlichen Überzeugungen wird mehr Wert beigemessen.

Deshalb haben wir Schulen und Universitäten, Zeitungen und Zeitschriften. Menschen neigen zwar dazu, sich auf persönliche Erfahrungen zu verlassen, aber es ist unsere Aufgabe als Lehrer oder Journalist, sie an die Fakten zu erinnern.

Wie gehen Sie da vor?

Ich sage nicht, dass ich alle im Alleingang überzeugen kann. Wir brauchen eine Gesellschaft, die sich an Fakten orientiert und nicht an Vorurteilen, an Statistiken und nicht an Anekdoten. Deshalb sollte schon in der Schule mehr Statistik unterrichtet werden. Statistik ist unverzichtbar, wenn man die Welt verstehen will.

"Der persönliche Eindruck kann täuschen"

Den meisten Menschen dürfte das keinen Spaß machen.

Soll das etwa ein rationaler Einwand sein?

Nein, das ist eine emotionale Feststellung.

Dann lehne ich sie ab. Wenn Sie Menschen überzeugen wollen, müssen Sie die Logik bemühen und Argumente anführen. Ansonsten würde es darauf hinauslaufen, dass Sie Ihr Gegenüber zu etwas zwingen wollen. Es gibt natürlich Leute, die das versuchen. Als ich in den USA nachts in einem Radioprogramm auftrat, schrieb mir ein Truck-Fahrer: "Sie mögen mit Zahlen hantieren, ich verlasse mich auf meine persönlichen Eindrücke." Als wären Zahlen und Eindrücke gleichwertig! Ich habe ihm geantwortet, warum ich das anders sehe: Der persönliche Eindruck kann täuschen.

Die Psychologie kennt viele Faktoren, die die Wahrnehmung verzerren ...

... oh ja!

Wie überzeugen Sie Ihre Studenten und Leser, dass sie sich nicht völlig auf ihre Erfahrungen verlassen dürfen, sondern selbstkritisch bleiben müssen?

Dafür habe ich keine Zauberformel parat, schon gar nicht, wenn es um jeden beliebigen Menschen geht. Es gibt dickköpfige Menschen, die sich nicht überzeugen lassen. Aber die Gesellschaft kann insgesamt ihr Bildungsniveau erhöhen - und sie hat das ja auch getan. Heute werden keine Hexen mehr verbrannt, und wir opfern auch nicht den Göttern, um für besseres Wetter zu sorgen. Im 20. Jahrhundert ist sogar die Intelligenz im Bereich des abstrakten Denkens gestiegen, ein Effekt, der nach seinem Entdecker Flynn-Effekt genannt wird.

Dass meine Generation intelligenter sein sollte als die meiner Großeltern, ist schwer zu akzeptieren.

Aber die Testergebnisse sind eindeutig. Weniger klar ist hingegen, wie sich das bessere Schlussfolgern im Alltag zeigt. Ich vermute, dass die geistige Entwicklung mit dazu geführt hat, dass uns heute im Rückblick einige öffentliche Debatten beschränkt erscheinen. Vor 50 Jahren hat man in den USA zum Beispiel ernsthaft über Rassentrennung diskutiert. Dabei merkt man schnell, dass sich eine solche Forderung nicht begründen lässt, wenn man darüber nachdenkt und sich auf eine kritische Diskussion einlässt.

Ließe sich nicht auch viel erreichen, wenn man das Mitgefühl der Menschen stärken würde? Einige Ihrer Kollegen entwickeln bereits Empathie-Trainings.

Ich glaube nicht, dass solche Trainings die beste Option darstellen. Es ist doch schon viel erreicht, wenn Menschen in einer kritischen Diskussion - oder auch nur durch einen Fernsehbeitrag - Verständnis für die andere Position entwickeln. Das wäre ein ganz natürlicher Weg, die Empathie auszuweiten, um der Gewalt entgegenzuwirken.

Vorschau: Die Rezension von Steven Pinkers Buch "Gewalt" (Verlag S. Fischer) erscheint am Freitag auf der Seite "Das politische Buch".

Psychologe und Buchautor

Forscher: Der Psychologe Steven Pinker (57) arbeitet seit 35 Jahren in Boston: am dortigen MIT, seit 2003 als Professor in Harvard. Er untersuchte die visuelle Wahrnehmung und den Spracherwerb bei Kindern.

Autor: Pinker schreibt regelmäßig für amerikanische Zeitungen und Zeitschriften. Er hat auch mehrere Bücher verfasst, die sich an ein allgemeines Publikum richten. Auf deutsch erschienen sind: „Der Sprachinstinkt“, „Das unbeschriebene Blatt“ und „Wie das Denken im Kopf entsteht“.