Der Justizvollzug ist seit dem Hungertod eines Häftlings in der Bruchsaler Anstalt im Sommer 2014 in den Schlagzeilen. Die Vollzugsexpertin Christine Graebsch, Professorin an der FH Dortmund, kritisiert eine mangelnde Kontrolle der Anstalten.

Stuttgart - Gerade ein halbes Jahr ist es her, dass in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal ein Häftling verhungerte. Der Fall erregte Aufsehen; im Landtag kam es zu einem Entlassungsantrag gegen Justizminister Rainer Stickelberger. Doch schon ist die Debatte wieder verebbt – auch wenn die Staatsanwaltschaft die genauen Todesumstände noch ermittelt. Die Dortmunder Rechtsprofessorin Christine Graebsch erkennt strukturelle Defizite in der Aufsicht über die Haftanstalten.

 
Frau Professor Graebsch, in der Justizvollzugsanstalt Bruchsal ist im vergangenen August der Gefangene Rasmane K. in Einzelhaft verhungert. Wie ist dieser Fall in der  Justizgeschichte Deutschlands einzuordnen?
Das Ende, das dieser Mensch gefunden hat, ist ohne Beispiel. Allerdings hat erst der Tod die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregt. Der Fall wirft Fragen allgemeiner Art auf. Der Staat versagt genau an der Stelle, an der er die dichteste Kontrolle ausübt. Es gibt auch andere Gefangene, die über sehr lange Zeit in Einzelhaft saßen, Günther Finneisen zum Beispiel, der wegen diverser Ausbrüche 16 Jahre in der JVA Celle allein in einer Hochsicherheitszelle verbrachte. In Bruchsal befand sich ein Gefangener über fast ein Jahrzehnt hinweg in sogenannter unausgesetzter Absonderung, also in Einzelhaft. Er hatte in Haft Gewalt verbal angedroht, aber nicht ausgeübt. Solche Fälle kommen meist nicht an die Öffentlichkeit. Es ist unklar, wie viele es tatsächlich davon gibt.
Aber es gibt doch eine Aufsicht.
Die Kontrolle durch die Justizministerien oder die Gerichte funktioniert nicht. Einzelhaft aber ist äußerst einschneidend und langfristig schädigend. Solche Fälle zeigen die Notwendigkeit unabhängiger Kontrollen von Haftanstalten. Dabei muss außenstehenden Personen ermöglicht werden, Zugang zu den isolierten Gefangenen zu erhalten.
Wann wird Einzelhaft verhängt?
Nach den gesetzlichen Vorschriften muss sie unerlässlich, also alternativlos sein. Wenn ein Gefangener eine extreme Gefährdung für sich oder andere darstellt – wenn zum Beispiel ein Angriff, der unmittelbar bevorsteht, nicht anders abgewendet werden kann. Man muss hier in Stunden und Tagen denken, nicht in Jahren. Es kann keine Lösung sein, jemanden dauerhaft zu isolieren und das Essen durch eine Türklappe in die Zelle zu schieben. Die Absonderung geschieht auch viel zu oft in disziplinierender Absicht.
Was wäre im Fall Rasmane K. zu tun gewesen?
Bei ihm ist das eine enorm schwierige Situation, weil er sich offenbar nicht behandeln lassen wollte, schon gar nicht medikamentös. Eine Zwangsbehandlung ist – zusätzlich zu den menschenrechtlichen Bedenken – kontraproduktiv. Es besänftigt den Gefangenen nicht, sondern erhöht seine Aggressivität sogar noch. Psychiatrische Kliniken sind eine Alternative, am besten ist es aber, unabhängige Ärzte und Kontaktpersonen hinzuzuziehen, um wo immer möglich, Vertrauen des Gefangenen wiederzugewinnen.
Welche Rolle spielt die Einzelhaft im Strafvollzug?
Es gibt eine vom Bund und den Ländern getragene „Nationale Stelle zur Verhütung von Folter“. Der Name mag dramatisch klingen, was daher kommt, dass diese Kommission auf die UN-Antifolterkonvention aus dem Jahr 1984 zurückgeht. Diese Konvention wendet sich nicht nur gegen Folter, sondern auch gegen andere Formen erniedrigender Behandlung. Im Jahresbericht 2012 hat sich die Kommission intensiv mit der Einzelhaft beschäftigt – nachdem sie bei ihren Besuchen in Haftanstalten wiederholt mit Problemen bei der Anordnung und beim Vollzug der Einzelhaft konfrontiert wurde. Im Bericht ist explizit die Rede davon, dass sich psychisch auffällige Gefangene in Einzelhaft befänden, ohne dass die Ursache der Auffälligkeit geklärt worden wäre. Das dient weder den Gefangenen noch der Allgemeinheit, sondern gefährdet beide.
Wie steht es um den Rechtsschutz der Gefangenen? Das Landgericht Karlsruhe hat 2011 die Praxis der Nacktdurchsuchungen in Bruchsal beanstandet. Nach Intervention des Ministeriums änderte die Justizvollzugsanstalt die entsprechende Regelung. Der betreffende Gefangene wurde danach vor einem Ausgang erneut nackt durchsucht, was dann wieder vom Oberlandesgericht gerügt wurde. Was ist da los?
Der Fall führte ja zu einer Petition an den Landtag und einer parlamentarischen Anfrage. Das ist ein Beispiel, an dem sich die Probleme von Gefangenenrechtsschutz zeigen. Das Bundesverfassungsgericht hat – übrigens schon im Jahr 2003 – gesagt, Nacktdurchsuchungen vor dem zeitweisen Verlassen der Justizvollzugsanstalt dürften nicht allgemein angeordnet werden, es bedürfe angesichts der Schwere des damit verbundenen Eingriffs einer Einzelfallprüfung. In der Praxis hat sich für die Gefangenen aber nichts geändert, die Nacktdurchsuchungen werden dann eben im Einzelfall angeordnet statt allgemein – wobei sich mir der Kontrollzweck beim Verlassen der Anstalt – anders als bei der Rückkehr – nicht erschließt.
Im konkreten Fall wurde dann aber auch die  Einzelanordnung des JVA-Leiters vom Oberlandesgericht als rechtswidrig gerügt.
Es braucht oft viele Jahre und eine Vielzahl an Durchgängen durch den Instanzenzug, ohne dass sich in der Anstaltspraxis etwas ändert. Es gibt da eine verbreitete Grundhaltung im Strafvollzug, die sich in dem Satz zusammenfassen lässt: Wir lassen uns von den Gerichten nichts sagen, die haben ohnehin keine Ahnung vom Vollzugsalltag. Dieser Haltung muss entschieden begegnet werden. Am genannten Beispiel hat das Justizministerium zu prüfen, ob die Anstalten inzwischen Nacktdurchsuchungen tatsächlich auch dann im Einzelfall schriftlich begründen, wenn ein Gefangener nicht vor Gericht geht.
Lässt sich diese Haltung nicht ganz ähnlich beim Streit über die Kontrolle von Verteidigerpost feststellen?
Das Beispiel geht über das Ignorieren gerichtlicher Entscheidungen sogar noch hinaus. Es gibt eine einschlägige Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe und eine des Bundesverfassungsgerichts. Aus beiden ergibt sich, dass Anwaltspost nicht geöffnet werden darf, sondern in Zweifelsfällen in der Kanzlei nachgefragt werden muss, ob es sich tatsächlich auch um Verteidigerpost handelt. Das Justizministerium hält dennoch an einer entgegenstehenden Verwaltungsvorschrift fest, die die Bediensteten zu rechtswidrigem Handeln anhält.
Auch damit hat sich der Petitionsausschuss beschäftigt.
Er beschied das Gesuch abschlägig; dies unter Berufung auf eine angebliche Entscheidung des „OLG S.“, die es so wohl nicht gibt. Es kann eigentlich nur eine durch das Bundesverfassungsgericht aufgehobene Entscheidung gemeint sein. Durch das unübliche Abkürzen von Gerichten und eine missverständliche Darstellung der Rechtsprechung führt der Petitionsausschuss in die Irre, wenn er nicht seinerseits vom Justizministerium in die Irre geführt wurde. Das Beispiel zeigt, wie Gefangenenrechte abgewehrt werden. Immer in der Hoffnung, dass dies außerhalb des Strafvollzugs ohnehin niemanden interessiert.