Trotz der steigenden Zahl ziviler Opfer hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan aus Sicht von Suzana Lipovac, Chefin der Stuttgarter Hilfsorganisation Kinderberg, mit dem Abzug der internationalen Truppen nicht so sehr verschlechtert wie befürchtet.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Suzana Lipovac, die Chefin der Stuttgarter Hilfsorganisation Kinderberg, setzt für die Zukunft des Landes auf die jüngeren Afghanen. Die 46 Jahre alte Stuttgarterin die humanitäre Hilfsorganisation Kinderberg 1993 ins Leben gerufen. Zuerst half die Tochter bosnischer Kroaten in Kriegsgebieten auf dem Balkan. Seit 2002 hat sie den Fokus auf Afghanistan gerichtet. Dafür erhielt sie 2011 das Bundesverdienstkreuz.

 
Frau Lipovac, die Sicherheitslage in Afghanistan ist prekär; fast täglich gibt es zivile Opfer. Wie frei können Sie sich dort noch bewegen?
Da wir schon zwölf Jahre in Afghanistan arbeiten, können wir die Sicherheitslage, die von Provinz zu Provinz, von Distrikt zu Distrikt, ja von Dorf zu Dorf sehr unterschiedlich ist, gut einschätzen. In einigen Gegenden haben wir seit Monaten keinen Zutritt mehr – es werden leider immer mehr. Wir bewegen uns dort, wo es uns sicher erscheint, können aber wie jeder Zivilist zur falschen Zeit am falschen Ort sein. Die Aufständischen führen immer wieder Anschläge außerhalb ihrer bekannten Aufenthaltsorte durch, dann ändert sich die Lage spontan – selbst dort, wo wir uns gerade noch sicher gefühlt haben.
Hat sich Ihre Einstellung gegenüber dem Land über die Jahre hinweg verändert?
Nein, meine Einstellung ist die gleiche, denn ich richte sie nach den Bedürfnissen unserer Patienten aus. Über die Zeit habe ich viele Freunde gewonnen, viele jüngere Mitarbeiter ausgebildet und aufgebaut. Deren Wille und Mut zu einer besseren Zukunft hat mich immer mehr ergriffen – im Geiste jung gehalten. Geändert hat sich meine Einstellung zur Politik der Regierung in Kabul und hier in Deutschland.
Wie nachhaltig ist die Arbeit der Hilfsorganisationen?
Wir arbeiten im basismedizinischen Gesundheitsbereich, da ist neben vielen anderen Dingen jede Impfung nachhaltig – für jede Frau, die ihr Kind gesund zur Welt bringt, damit es einen guten Start ins Leben bekommt. Am nachhaltigsten ist die Ausbildung unserer mehr als 400 Mitarbeiter.
Was ändert sich durch den laufenden Rückzug der internationalen Truppen für die Menschen im Land?
Wo die Isaf-Soldaten schon abgezogen sind – wie vor zwei Jahren in Badakhshan und Taloquan oder letztes Jahr in Kundus –, haben wir es ja konkret mitbekommen. Die Sicherheitslage hat sich verschlechtert, aber nicht in dem Maße, wie ich es befürchtet hatte. Sie ist, so schlimm es klingen mag, gut, wenn man sie mit den Herausforderungen vergleicht, vor denen die afghanische Armee oder die afghanische Polizei steht. Ich bin erstaunt, wie gut die das hinbekommen. Viele sagen, das liegt an der Ausbildung und Ausrüstung, aber sie sind auch bereit, ihr Leben für die Sicherheit ihrer Bürger und für uns zu riskieren. Alles hängt jetzt von ihnen ab.
Welche Art von internationaler Unterstützung wäre aus Ihrer Sicht am notwendigsten?
Ehrlichkeit. Und die Einhaltung aller Versprechen, die kundgetan und zu Papier gebracht wurden – sowie die nötige Zeit, diese in Taten umzusetzen.
Erwarten Sie halbwegs reguläre Wahlen?
Ich habe alle bisherigen Wahlen erlebt, und keine war das, was ich unter Wahlen verstehe. Sie waren es nicht einmal halbwegs, aber mehr gab es ja bisher nicht. Es werden keine demokratischen Wahlen nach meinem Maßstab sein, aber Demokratie lebt vom Wechsel, und den wird es jetzt definitiv geben.
In welche Zukunft geht Afghanistan aus Ihrer Sicht?
Wenn die Versprechen eingehalten werden, die wir den Afghanen gegeben haben, werden sie die Chance ergreifen – nicht die Alten, aber die Jungen, die vor zwölf Jahren Teenager oder fast 20 waren und heute bei mir unfassbar gute Arbeit leisten. Sie sind weltoffen und tolerant, aber eben erst 30 und haben noch keine Macht. Wenn sie 40 sind, werden sie das Wesen, das Wissen und die Positionen haben, um etwas zu verändern – oder wieder im Nichts versinken.
Wie lange wird Kinderberg im Land bleiben?
Das Entwicklungsministerium BMZ hat im März eine internationale Afghanistankonferenz in Berlin durchgeführt und die deutsche Entwicklungsstrategie vorgestellt. Wenn es nach mir ginge, würde ich diese gerne mit meinen 30-jährigen afghanischen Mitarbeitern umsetzen, also weitere zehn Jahre bleiben, bis sie feste Posten oder gar Schlüsselpositionen in Unternehmen und Behörden besetzen. Dann hätte ich ein besseres Gefühl zu gehen. Es würde mich fertigmachen, dort sinnlos 22 Jahre verbracht zu haben. Wenn wir jetzt gingen, wären die letzten zwölf Jahre ganz sicher vergebens gewesen.