Am Sonntag tritt Reiner Hoffmann, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes, bei der Mai-Kundgebung auf dem Stuttgarter Marktplatz auf. Die AfD, die an diesem Wochenende ihren Parteitag auf dem Stuttgarter Messegelände abhält, greift er als „Partei der Besserverdienenden“ scharf an.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Der Deutsche Gewerkschaftsbund hat schon viel erreicht unter der schwarz-roten Bundesregierung. Dennoch geht die Schere zwischen Arm und Reich noch immer auseinander, wie DGB-Chef Reiner Hoffmann feststellt. Daher dringt er auf weitere Korrekturen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Bundesregierung.

 
Herr Hoffmann, Ihr Vorgänger Michael Sommer hat bis vor zwei Jahren am 1. Mai stets eine bitterböse Bilanz gezogen. Da erschien Deutschland als ein Land der Ungerechtigkeiten, der Ausbeutung und der Gier von Managern. Hat Arbeit heute den Stellenwert, den sie in Ihren Augen verdient?
Wir haben in Deutschland einen sehr robusten Arbeitsmarkt mit rund 32 Millionen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten. Das ist ein gutes Zeichen, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nach wie vor den größten Niedriglohnsektor in Europa haben. Das verträgt sich nicht mit sozialer Marktwirtschaft. Die Gewerkschaften sind angetreten, den Arbeitsmarkt neu zu ordnen – da haben wir beachtliche Erfolge erreicht. An erster Stelle den gesetzlichen Mindestlohn, von dem vier Millionen Menschen profitieren. Wir haben die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren. Und wenn es gelingt, den Widerstand der CSU zu brechen, wird mit einem neuen Gesetz endlich der Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen bekämpft. Das sind deutliche Weichenstellungen, um Lohndrückerei wirksam zu bekämpfen.
Driften Reich und Arm noch auseinander – oder konnten die Gewerkschaften erreichen, dass sich die Einkommensschere ein Stück weit schließt?
Die Einkommensschere geht nach wie vor auseinander – insbesondere, wenn man sich die extrem ungleiche Vermögensverteilung anschaut. Das oberste Prozent hat in den vergangenen 10 Jahren 100 Milliarden Euro an Vermögen zusätzlich aufgehäuft. Das können wir mit der Tarifpolitik nicht korrigieren, da gehört mehr dazu. Die Kapitalertragssteuer muss wieder in den Einkommensteuertarif zurück. Vermögende müssen derzeit lediglich 25 Prozent ihrer Erträge versteuern – Arbeitnehmer aber ihr Arbeitseinkommen mit bis zu 42 Prozent. So ändert sich die Ungleichverteilung nicht.
Der gesetzliche Mindestlohn scheint akzeptiert zu werden. Besteht noch Korrekturbedarf?
Wir bleiben dabei, dass die Ausnahmen für Jugendliche und Langzeitarbeitslose völlig verfehlt sind. Sie haben den Zugang in den ersten Arbeitsmarkt nicht erleichtert und müssen zurückgenommen werden. Wenn einzelne Arbeitgeber die Ausnahmen sogar noch ausweiten wollen – etwa für Flüchtlinge –, würde dies den Arbeitsmarkt weiter spalten.
Verdi treibt den DGB an und fordert eine rasche Anhebung des Mindestlohns auf 10 Euro. Wann wird es soweit sein?
Eine Prognose, wann er die Zehn-Euro-Schwelle erreichen wird, ist schwierig. Klar ist: Im Juni soll es eine Empfehlung der Mindestlohn-Kommission geben, in welchem Umfang er zum 1. Januar 2017 angehoben werden kann.
Und dann?
Die acht DGB-Gewerkschaften haben sich für die Mindestlohn-Kommission darauf verständigt, dass die Anhebung nachlaufend zu den Tarifabschlüssen erfolgen soll. Daher wird die Entwicklung sehr stark davon beeinflusst, dass wir erfolgreiche Tarifpolitik machen. Das ist in den letzten Jahren auch gelungen: Die Realeinkommen sind deutlich geringer gestiegen als die Tarifeinkommen. Das Problem ist die Tarifflucht der Arbeitgeber, so dass die Tarifbindung der Beschäftigten im deutschen Durchschnitt auf rund 60 Prozent gesunken ist. Deshalb bezieht die IG Metall in ihrer Tarifrunde die nicht tarifgebundenen Unternehmen völlig zu Recht ein. Die Arbeitgeber müssen Schluss machen mit dem Lohndumping.
Im Wettbewerb der Flächentarifverträge eilen die Industrielöhne weit voraus. Ist das noch gerecht?
Diese Entwicklung verfolgen wir seit gut 15 Jahren, dass die Tarifabschlüsse im industriellen Bereich, im öffentlichen Dienst und den privaten Dienstleistungen auseinander liegen. Grund ist auch, dass gerade bei den privaten Dienstleistungen zu viele Arbeitgeber nicht tarifgebunden sind. Insbesondere Einzelhandelsketten unterlaufen zudem systematisch die Mitbestimmung, indem sie Schachtelunternehmen gründen, um unter der Schwelle von 2000 Beschäftigten zu bleiben. Deswegen wollen wir auch die Lücken im Mitbestimmungsgesetz von 1976 schließen. Mit der Bundesregierung sind wir im Gespräch, wie wir die Tarifbindung insgesamt erhöhen können. Denn dann wird es auch mehr Lohngleichheit geben.