Die Muslime müssten mehr Verantwortung übernehmen, fordert Ercan Karakoyun, der Chef der Stiftung Dialog und Bildung, im Interview. Dazu zähle auch, sich intensiver damit auseinanderzusetzen, dass viele Muslime aus Deutschland nach Syrien reisen, um dort in den Reihen des „Islamischen Staates“ Krieg zu führen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Stuttgart - Wohl keine islamische Bewegung wird in Deutschland so gegensätzlich beurteilt wie „Hizmet“ (Der Dienst). Sie beruft sich auf den türkischen Prediger Fethullah Gülen und ist die am schnellsten wachsende Strömung unter Bürgern mit türkischen Wurzeln. Rund 300 Vereine betreiben 24 staatlich anerkannte Privatschulen und etwa 150 außerschulische Nachhilfeeinrichtungen. Offiziell gibt es in keiner dieser Einrichtungen eine islamische Unterweisung. Die Absolventen dieser Schulen bilden eine neue, in sozialmoralischer Hinsicht konservative Bildungselite, die den Kontakt zur Politik, zur Verwaltung und zur Öffentlichkeit sucht. Dazu wurde die Stiftung Bildung und Dialog ins Leben gerufen.

 

Der Gülen-Bewegung wird vom Verfassungsschutz in Baden-Württemberg vorgeworfen, dass einige Schriften, die Fethullah Gülen in der Vergangenheit publiziert hat, „inhaltlich zu einzelnen Bestandteilen der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Widerspruch stehen“. Dennoch wird die Bewegung nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Denn es gebe „keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die ‚Gülen-Bewegung‘ gezielt Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verfolgt“.

Herr Karakoyun, das Bundesverfassungsgericht hat vor einigen Tagen das Kopftuch-Verbot aufgehoben. Ist das eine gute oder eine schlechte Entscheidung?
Eine gute Entscheidung! Es ist ein wichtiger Schritt für die Akzeptanz von Muslimen in Deutschland. Der Spruch hat auch mein Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht gestärkt, weil ich sehe, dass die Religionsfreiheit in Deutschland einen großen Wert hat.
Können Sie die Ängste von Eltern verstehen, die nicht wollen, dass ihr Kind von einer Lehrerin mit Kopftuch unterrichtet wird?
Die kann ich natürlich verstehen. Ich bin aber überzeugt, dass wir uns dem Thema offen nähern und darüber diskutieren müssen. Das Urteil ist ein Schritt in Richtung Normalisierung. Das wird mittel- bis langfristig dazu führen, dass das Kopftuch als Teil dieser Gesellschaft anerkannt wird.
Das Kopftuch-Urteil fällt in eine Zeit, in der heftige Diskussionen über die Rolle des Islam geführt werden. Die Anschläge in Paris auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ und das blutige Wüten des Islamischen Staates zeichnen ein dunkles Bild. Ist der Islam eine gewalttätige Religion?
Wenn Sie mich fragen, ob die Anschläge in Paris und die IS-Terroristen etwas mit dem Islam zu tun haben, sage ich: Nein, das hat nichts mit dem Islam zu tun! Aber die Bluttaten haben etwas mit den Muslimen zu tun. Der Islam ist eine Religion, die die Menschenrechte und die individuellen Werte schützt. Aber dass solche Dinge im Namen des Islam passieren, zeigt uns als Muslime, dass wir in der muslimischen Gemeinschaft eine Diskussion in Gang setzten müssen, die wir bisher versucht haben zu vermeiden.
Das heißt, es muss auch darüber geredet werden, dass viele junge Muslime aus Deutschland nach Syrien in den Krieg ziehen. Was läuft da schief?
Um solche Entwicklungen zu verhindern, muss mehr in die Bildung und den Dialog investiert werden. Nur durch Bildung kann man die Menschen dazu bringen, differenziert und bewusst zu handeln. Und nur durch den Dialog kann man erreichen, dass sich Menschen begegnen und Vorurteile abbauen. Wir als Muslime müssen da viel mehr Verantwortung übernehmen.
Von den Spitzen der muslimischen Verbände werden diese Probleme immer wieder öffentlich angesprochen. Aber reicht das? Was geschieht an der Basis, was machen die Imame in den Moscheen?
Tatsache ist, dass es eine Elite gibt in der türkischen Gemeinschaft, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzt und sie diskutiert. Das alles wird aber nicht bis hinunter in die Gemeinden und die Moscheen kommuniziert. Daran müssen wir arbeiten.
Dem Islam wird vorgeworfen, dass er noch immer interpretiert wird, wie er vor vielen Jahrhunderten niedergeschrieben worden ist. Wie kann das verändert werden?
Das passiert eigentlich ständig. Der Religionsgelehrte Fethullah Gülen sagt, dass der Islam immer in seiner ganz speziellen Zeit verstanden werden muss. Es gibt in der muslimischen Religion das Prinzip des Idschtihad. Das heißt, der Koran kann interpretiert und der Islam den modernen Zeiten angepasst werden.
Wieso dann aber der Vorwurf des Stillstandes?
Das Prinzip des Idschtihad wird in unserer Zeit zu selten angewandt, weil es zu wenige Menschen gibt, die das notwendige Wissen dazu haben. Zu viele Muslime berufen sich auf den Koran und ignorieren, in welchem Zusammenhang, unter welchen Umständen und in welchem historischen Zusammenhang ein Vers offenbart worden ist.
Das heißt, auch eine Trennung von Staat und Kirche ist im Islam möglich?
Die Trennung von Staat und Religion ist sogar erforderlich. Diese Trennung hat es in der Geschichte des Islam zudem schon oft gegeben. Und sie ist erforderlich, da sonst die Religion zu einer bloßen politischen Ideologie verkommt und von der Politik instrumentalisiert werden kann – wie das im Moment der ‚Islamische Staat’ demonstriert.
Glauben Sie an einen europäischen Islam?
Ich glaube, wir brauchen europäische Muslime. Also Muslime, die versuchen, den Islam in Europa zu leben und so zu interpretieren, dass er der heutigen Zeit gerecht wird.