Der Theologe John Reynolds hat 20 Jahre als Investmentbanker in London gearbeitet. „Ethik spielt im täglichen Geschäft keine Rolle. Das ist gar nicht so gewollt, im Gegenteil“, sagt er im Interview über Ethik und Moral in der Finanzindustrie.

London - H

 

err Reynolds, der Libor-Skandal hat eine Mischung aus Inkompetenz, Unmoral und Geldgier zum Vorschein gebracht. Gibt es überhaupt so etwas wie Moral im Bankengewerbe?
Meiner Beobachtung nach leiden die Finanzhäuser nicht an institutioneller Unmoral, sondern an einer Abwesenheit von Moral. Ethik spielt im täglichen Geschäft keine Rolle. Das ist gar nicht so gewollt, im Gegenteil: die Vorstände wiegen sich im Glauben, sie würden ethisch handeln. In Wirklichkeit fehlt diese Dimension.

Meldet die Finanzbranche ethischen Bankrott an?
Banken spiegeln den Rest der Gesellschaft wider. Hier in Großbritannien hatten wir den Parlamentsskandal, bei dem sich Abgeordnete mit falschen Spesenangaben bereicherten. Vor einem Jahr stand das Verlagshaus News International wegen weit verbreiteten unethischen Verhaltens in der Kritik. Große Rüstungsunternehmen sehen sich immer wieder mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Investmentbanker sind nicht besser oder schlechter als andere. Es geht nur um viel größere Summen.

Welche Rolle spielt die Finanzaufsicht?
Die Regularien werden der Realität nicht gerecht. So gibt es sehr genaue Regeln gegen Geldwäsche. Das spielt für 90 Prozent der Investmentbanker keinerlei Rolle. Deren Training in Compliance . . .

. . .wo es um die Einhaltung geltender Regeln geht . . .
. . .verfehlt das Ziel komplett. Es gibt viele Banken, deren Compliance gut ist, die aber unethisch handeln.

Viele im Finanzsektor sagen ja ausdrücklich: Ethik und Moral ist was für Pfarrer, wir kümmern uns ums Geldverdienen.
Das war tatsächlich weitverbreitet. Die globale Finanzkrise führt nun zu Veränderungen, weil sich mehr Menschen über den Sektor informieren. Das halte ich für gut. Es gibt eine Verantwortung, die über den Gewinn der Aktionäre hinausgeht.

Gibt es auch positive Beispiele?
Vergleichen Sie mal, wie sich Royal Bank of Scotland (RBS) und HSBC verhalten haben. Da gibt es einen klaren Unterschied. HSBC ließ sich auf bestimmte, besonders gefährliche Finanzprodukte nicht ein.

Analysten murrten über die Vorsicht von HSBC und machten sich über den damaligen Vorstandsvorsitzenden lustig.
Stephen Green ist ordinierter Pfarrer der Church of England, also ein ungewöhnlicher Bankchef. Und sicher hatten manche seiner Entscheidungen zur Folge, dass HSBC lukrative Verdienstmöglichkeiten entgingen. Dafür hat HSBC aber die Finanzkrise ohne Staatshilfe überstanden, wohingegen RBS zu 84 Prozent den britischen Steuerzahlern gehört.

Hat der Libor-Skandal Ihre Beobachtungen über die Ethik in der City bestätigt?
Hier sind Bankkunden aktiv in die Irre geführt worden, ohne dass ein Straftatbestand erfüllt war. Dieses unethische Verhalten halten in der Branche viele für zulässig. Ich nicht. Aber ich will den Sektor auch verteidigen: Investmentbanking ist notwendig und trägt zum Gelingen unserer Wirtschaft bei. Die Leute stehen unter extrem hohem Druck in einem sehr zyklischen Geschäft, die Jobsicherheit ist gering. Das kann die hohen Vergütungen erklären. Allerdings kommt mit den Millionengehältern auch die Verpflichtung, Verantwortung zu übernehmen.

Wie war bisher die Resonanz auf Ihr Buch?
Als es im Gemeindehaus der St.-Pauls-Kathedrale in London vorgestellt wurde, fanden sich dort so viele Investmentbanker ein wie nie zuvor. Viele individuelle Marktteilnehmer interessieren sich für das Thema Ethik. Die Vorstände haben mein Buch völlig ignoriert. Darin sind sie sich mit Zentralbank und Finanzaufsicht FSA einig, die reden ja auch nicht von ethischem Verhalten.