Der Fanforscher Harald Lange spricht über den Sport und sein Publikum, den olympischen Knall, die Skandale im Fußball – und erklärt, warum sich der VfB Stuttgart mit der Ausgliederung gerade so schwertut.

Stuttgart - Freunde des Sports mussten in diesem Jahr leiden. Dopingskandale bei Olympia, scheinbar außer Kontrolle geratene Kommerzialisierung im Fußball – der Würzburger Fanforscher Harald Lange sieht ein Glaubwürdigkeitsproblem. „Da ist zurzeit unheimlich viel kriminelle Energie im Spiel“, sagt der 48-Jährige. „Ein Knall wie im olympischen Sport ist im Fußball aber noch lange nicht in Sicht.“

 
Herr Lange, welches war Ihr ganz persönlicher Sportmoment des Jahres 2016?
Der war erst vor wenigen Wochen: Als ich mit meiner Tochter im Keller einen Parcours aufgebaut hatte, den sie unter lautem Jubel und Getöse absolvierte. Das war echter Sport. Wirklich, authentisch, zweckfrei.
Wie fällt Ihr Rückblick auf den professionellen Sport aus?
Es war ein schwarzes Jahr. Wir haben im olympischen Sport in diesem Sommer den großen Knall erlebt. Die Spiele haben nach den vielen Dopingskandalen und den chaotischen sportpolitischen Entscheidungen des IOC kaum noch einen wirklich interessiert. Da ist in ganz hohem Maße Glaubwürdigkeit verplempert worden – mit der Folge, dass die olympische Bewegung an der Basis der Fankultur massiv gelitten hat.
Wie lässt sich die Glaubwürdigkeit wiederherstellen?
Glaubwürdigkeit lässt sich in diesem Kontext nur über die Werte des Sports zurückgewinnen: Fairplay, Zweckfreiheit, Spaß, um nur einige zu nennen. Sie müssen gelebt werden, und das können die aktiven Sportler viel besser als deren Funktionäre.
Auch der Fußball war von Negativschlagzeilen geprägt – Fifa-Skandal, Sommermärchen-Affäre, zuletzt die dubiosen Steuersparmodelle der Superstars. Trotzdem werden immer neue Rekorde vermeldet. Wie passt das zusammen?
Ein Knall wie im olympischen Sport ist im Fußball noch lange nicht in Sicht. Zurzeit deutet es viel eher darauf hin, dass noch drei weitere Bomben hochgehen könnten und der Fußball trotzdem eine Gelddruckmaschine bleibt. Selbst die Fifa-Skandale haben nichts verändert – den meisten Fans war das egal. Das muss aber nicht so bleiben. Womit man rechnen muss, ist, dass irgendwann auch der Fußball an einen Punkt kommt, an dem sich der Fan abwendet.
Wirklich? Was müsste passieren?
Es wird in jenem Moment problematisch, in dem auch der Fußball ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommt. Das betrifft die Diskussionen über die immer höher werdenden Gehälter, also die soziale Gerechtigkeit. Und das betrifft verschobene und manipulierte Spiele. Da ist zurzeit unheimlich viel kriminelle Energie im Spiel. Wenn man das nicht in den Griff bekommt, können dies eines Tages die Sargnägel sein.
Noch aber scheint es so, dass sich der Fußball für viele Menschen von einer schönen Nebensache zum Lebensmittelpunkt entwickelt. Warum wird die Bedeutung immer größer?
Es gibt zwei gegenläufige Entwicklungen. Auf der einen Seite verflacht der Fußball zunehmend als banales Unterhaltungsinstrument. Das heißt, die Anzahl derer, die am Wochenende ins Stadion gehen, um sich ein bisschen unterhalten zu lassen, ist in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Diese sogenannten Bezahlfans gönnen sich den Fußball als Freizeitvergnügen.
Ein Grund, warum beim VfB das Stadion auch in der zweiten Liga voll ist?
Genau. Der Fußball hat die Mitte der Gesellschaft erreicht, alle gesellschaftlichen Gruppen kommen im Stadion zusammen. Die Leute reden darüber, sie zeigen auch in ihrem Alltag, dass sie im weitesten Sinne Fan eines Vereins sind. Diese Leute freuen sich, wenn ihr Verein gewinnt, sie ärgern sich, wenn er verliert – aber eine Stunde nach dem Spiel ist ihnen auch schon wieder egal, wie das Spiel ausgegangen ist. Die Bedeutung des Fußballs für ihre Lebensgestaltung geht zurück. Das ist die eine Richtung, die wir beobachten.
Und die andere?
Gleichzeitig gibt es die Entwicklung, die man sehr schön an der Ultra-Bewegung festmachen kann. Hier differenziert sich vorwiegend bei jungen Menschen immer stärker ein Bereich heraus, in dem der Fußball und das Fan-Sein das Wichtigste im Leben überhaupt ist. Diese Fans definieren ihre Identität komplett über den Fußball und leben nach dem 24/7-Prinzip. Heißt: 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche sind sie Fan ihres Vereins. Auch diese Bewegung ist in den letzten Jahren intensiver geworden. Verglichen mit den Bezahlfans ist sie aber verschwindend gering.
Trotzdem hat man den Eindruck, dass die Ultras eine immer größere Rolle spielen.
Sie sind im Stadion sehr sichtbar und sehr wirkungsvoll – sie sorgen für Stimmung und Atmosphäre. Um diese Leidenschaft beneiden uns die Verantwortlichen in vielen anderen europäischen Spitzenligen. In der englischen Premier League gibt es mittlerweile zum großen Teil Bezahlfans. Dort ist der durchschnittliche Zuschauer über 50 Jahre alt – und bleibt sitzen, wenn die eigene Mannschaft ein Tor schießt.
Dennoch gilt die Premier League als Maß aller Dinge. Sprich: benötigten die Vereine überhaupt noch die Folklore in der Kurve?
Der Punkt ist: Setze ich darauf, dass der Fußball ein reiner Wirtschaftsfaktor ist? Oder setze ich weiter darauf, dass er ein identitätsstiftender Faktor für die Gesellschaft bleibt? Also: wem gehört der Fußball eigentlich? Das ist eine fast schon philosophische Frage, die es wert ist, erörtert zu werden. In Zeiten immer weiter zunehmender Kommerzialisierung wird diese Diskussion immer bedeutsamer.
Der Fußball gehört uns, sagen die Ultras und belassen es nicht bei Gesängen oder Choreografien. Sie wollen auch immer stärker auf die Vereinspolitik Einfluss nehmen . . .
. . . das ist ein spannender Problembereich. Es ist doch klar: Wenn ich mich mit einer Sache so stark identifiziere, dass ich sie regelrecht lebe, komme ich gar nicht umhin, maßgeblich eingreifen und mitbestimmen zu wollen. Das äußert sich etwa, wenn Fans gegen die Verpflichtung eines Spieler skandieren, der aus ihrer Sicht nicht zum Verein passt. Die „Koan Neuer“-Kampagne beim FC Bayern ist das populärste Beispiel. Das war ein richtiges Problem für den Verein.
Beim VfB versucht die Vereinsführung seit Jahren, die Mitglieder von der Notwendigkeit einer Ausgliederung der Profiabteilung zu überzeugen. Bislang ohne Erfolg.
Das wundert mich nicht. Wenn man in der Führungsetage sitzt und die Beispiele von Clubs wie Red Bull Leipzig sieht, denkt man sich: Das ist ein Erfolgsmodell, das muss doch auch bei uns funktionieren. Das mag zwar so sein. Doch hat man dabei nicht die Perspektive derer im Blick, die den Verein als Orientierungspunkt brauchen – und deshalb regelmäßig dagegen stimmen. Das tun sie nicht aus Bösartigkeit oder Argwohn – sondern schlicht deshalb, weil sie gar nicht anders können.
Warum?
Diese Fans haben Angst, dass sie abgehängt werden und sich irgendwann nicht mehr mit ihrem Verein identifizieren können. Das kann individuell so hart empfunden werden wie das Scheitern in einer Beziehung – wenn man merkt, es gibt keine gemeinsame Basis mehr.
Was kann der VfB tun?
Den Plan von der Ausgliederung aufgeben.
Und die Fans steigen lieber ab, als ihr Mitbestimmungsrecht zu opfern?
Im Zweifel ja. Es reicht nicht, wenn Vereine argumentieren: Nach einer Ausgliederung haben wir mehr Geld. Fanbeteiligung ist unendlich wichtig. Die Fans sind die Seele eines Vereins.
Dann halten Sie es für berechtigt, dass Fans so viel Einfluss nehmen wollen?
Historisch gesehen ist das auf jeden Fall berechtigt. Früher gehörte es untrennbar dazu, dass ein Verein nicht nur vom Management bestimmt wurde, sondern von den Mitgliedern.
Aber aus den Vereinen sind Unternehmen mit teils mehreren hundert Millionen Euro Umsatz geworden. Lassen sie sich wirklich noch so basisdemokratisch führen?
Das ist ein klassischer Systemkonflikt. Einerseits müssen die Verantwortlichen ihren Verein als Wirtschaftsunternehmen sehen. Andererseits aber braucht der Fußballfan seinen Club nicht als Wirtschaftsunternehmen, sondern als Ort seiner regionalen und ideellen Herkunft, als Ort, in dem bestimmte Werte gelebt werden, mit denen er sich identifizieren kann. Bei den eingefleischten Fans steht die Orientierung diametral entgegengesetzt zu den Verantwortlichen, die den Verein führen.
Die Interessen lassen sich nicht vereinbaren?
Je größer ein Verein ist, desto schwieriger wird es. Bei Borussia Dortmund hat man noch immer den Eindruck, dass genau das geglückt ist, wovon alle träumen: die Kombination einer hoch ausdifferenzierten Kommerzialisierung mit einer extrem tief verwurzelten Fankultur. Wenn man dort im Stadion ist, kann man sich gar nicht vorstellen, dass die Borussia einer der ersten Aktiengesellschaften überhaupt war.