Der Strafverteidiger und Autor Ferdinand von Schirach hat mehrere Bestseller geschrieben. Das ZDF zeigt die Verfilmung seines Buchs „Verbrechen“ an den kommenden drei Sonntagen. Im StZ-Interview spricht von Schirach über Mörder, Schuld und die Frage, ob es als Anwalt wichtig ist, die Wahrheit zu kennen.

Berlin – Ferdinand von Schirach, Strafverteidiger und Schriftsteller, hat mehrere Bestseller geschrieben. Aus seinem ersten, dem Erzählband „Verbrechen“, hat das ZDF eine Miniserie gemacht. Die ersten beiden Folgen kommen am Sonntagabend von 22 Uhr an mit Josef Bierbichler in der Hauptrolle. Im Gespräch mit Wiebke Ramm spricht er über Schuld, Vorurteile und Zweifel.
Herr von Schirach, als Gerichtsreporterin bin ich oft mit dem Zug unterwegs. Jedes Mal, wenn ich auf freiem Feld eine Baumgruppe sehe, denke ich an Leichenfundorte. Kennen Sie das?
Als junger Strafverteidiger hatte ich das am Anfang auch. Immer wenn ich durch Berlin gefahren bin, hatte ich diese Karte im Kopf: Dort hat ein Mann seine Frau erwürgt, da wurde eine Tankstelle überfallen, aus diesem Fenster wurde ein Baby geworfen. Aber irgendwann verschwindet das. Nur manchmal, wenn ich über die Dörfer fahre, sehe ich zu viel: ein kurz geschnittener Rasen vor einem Reihenhaus, die Spuren eines Tretautos im Gras, der Haarreif eines Mädchens. Warum hängen schwarze Plastikfolien vor den Kellerfenstern?

Hat sich an Ihrem Blick aufs Leben grundlegend verändert?
Ich bin mir nicht sicher, ob sich Menschen überhaupt verändern. Aber ich versuche weniger zu urteilen. Wir alle leben von unseren Vorurteilen. Aber wenn Sie lange Strafverteidigung machen, wird Ihnen klar, dass die meisten Urteile falsch sind. Der Mann neben Ihnen im Café, dem der Sabber aus dem Mund läuft und der unangenehm riecht, ist kein Obdachloser. Dieser Mann ist ein Hochschullehrer für Quantenmechanik, sein Vermögen hat er den Ärzten ohne Grenzen geschenkt. Und der freundliche Blumenhändler, bei dem Sie die Tulpen kaufen, hat vor 15 Jahren seine Frau umgebracht. Ich bin also vorsichtiger mit meinen Urteilen geworden – die Wahrheit ist nicht das, was wir sehen.

Was Ihre Erzählungen so besonders macht, ist, dass Sie den Leser häufig ohne Gewissheit beunruhigt zurücklassen, weil die Frage der Schuld offenbleibt. Wie gehen Sie als Strafverteidiger mit diesem Unbehagen um?
Dieses Unbehagen – das ist ein schönes Wort – scheint tatsächlich unser Leben widerzuspiegeln. Es ist ja nicht so, dass die Dinge gut ausgehen. Krumm und schief sind wir in diese Welt gestellt. Natürlich, wir versuchen durchzukommen, aber wenn wir ehrlich sind, gelingt uns nur wenig. Denken Sie an Beziehungen: Es geht ja nach der Hochzeit weiter, und irgendwann wird es schwierig. Das heißt doch: schon das, worin wir am meisten investieren, unsere Beziehungen, schon das funktioniert nicht. Was folgt daraus? Sollen wir Zyniker werden? Sollen wir die Menschen verachten und alles nur für einen Witz halten? Das ist doch eine scheußliche Haltung.

„Ob der Anwalt glaubt, dass sein Mandant unschuldig ist, spielt keine Rolle“, schreiben Sie. Aber will man in stillen Momenten nicht doch wissen, ob er es war?
Wir alle sind neugierig.

Ja, eben.
In einer konkreten Verteidigung spielt diese Frage trotzdem nicht die geringste Rolle. Die Aufgabe des Verteidigers ist zu verteidigen. Nicht mehr, nicht weniger. Trotzdem haben Sie recht, manchmal gibt es diese Situation: Sie sitzen abends draußen im Café und überlegen sich: Der läuft jetzt weiter draußen rum, und wahrscheinlich hat er diese furchtbare Tat begangen . . .

Solche Momente gibt es also?
Ja. Aber wenn diese Momente Ihr Leben bestimmen, sind Sie für den Beruf ungeeignet. Dann haben Sie das Recht nicht verstanden. Sie sind kein Sozialarbeiter, kein Pfarrer. Sie fällen keine moralischen Urteile. Sie sind die eine Hälfte der Waagschale.