Deutschland wird zur Altenrepublik. Im Interview spricht Franz Müntefering über die Pflegeversicherung, die Rente mit 67 und das Engagement der Tarifparteien.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Berlin - Deutschland wird zur Altenrepublik. Die Menschen leben länger, immer weniger Kinder werden geboren. Müntefering will eine andere Pflegeversicherung, lobt die Rente mit 67 und fordert mehr Engagement der Tarifparteien.

 

Herr Müntefering, der Sänger Jopi Heesters ist mit 108 Jahren gestorben. Würden Sie auch gerne so alt?

Ich würde gerne gesund alt werden, auf die Jahreszahl kommt es nicht so an. Leben ist schön, und ich bin jeden Tag wieder gerne dabei.

Sie sind jetzt 72. Wie fühlt sich Altwerden für Sie an?

Ich wundere mich im Älterwerden, dass ich so gut drauf bin. Als ich jung war, war das Alter, das ich erreicht habe, fast biblisch. Ich merke, dass die eine oder andere Fähigkeit abnimmt. Wenn ich jogge, bin ich weiß Gott nicht mehr schnell. Die Knochen werden etwas lahmer. Aber der Kopf ist klar.

Früher stellten sich die Menschen die Frage: Wie alt werde ich? Heute lautet sie wohl eher: Wie werde ich alt? Viele haben Angst vor dem Altern.

Wenn wir unser heutiges Leben mit früher vergleichen, dann können wir nur sagen: Gut, dass wir jetzt leben dürfen. Die Fortschritte in der Medizin, beim Arbeiten, beim Essen bescheren uns ein - im Schnitt - besseres und längeres Leben. Die Lebenserwartung lag um 1900 bei 50 Jahren. Jetzt ist sie bei 80 Jahren, und sie wächst weiter, bei meist guter Gesundheit.

"Wir haben kein besseres Prinzip."

Unser Sozialsystem arbeitet nach dem Solidarprinzip. Ist dieses Prinzip durchzuhalten, wenn die Jungen immer weniger und die Alten immer mehr werden?

Wir haben kein besseres Prinzip. Richtig ist: die zwischen 20 und 65 tragen die allergrößte Last. Was kann man also tun? Wir müssen vor allem in Bildung, Ausbildung und Fortbildung investieren. Wenn wir ein Wohlstandsland bleiben, das hochleistungsfähig ist, dann werden die Alten und die Jungen hier auch in zwanzig, dreißig Jahren sehr gut leben. Wenn nicht, dann werden es beide nicht mehr tun.

Die Frage der Solidarität stellt sich konkret in der Pflegeversicherung. Sie sagen, die muss eine "Volksversicherung" sein. Das klingt ein bisschen nach Sozialismus.

Wir haben heute eine Pflegeversicherung, in der jeder mitmachen muss. Aber sie ist geteilt in eine private und eine gesetzliche Versicherung. Die Kassen der gesetzlichen sind ziemlich leer, die Kasse der Privaten gut gefüllt. Wenn man das zusammenlegte, kämen wir ein gutes Stück weiter. Deshalb habe ich große Bedenken gegen das, was die schwarz-gelbe Koalition vorhat - mit einer obligatorischen Kapitalversicherung. Das ist der falsche Weg.

In der Rente ist das Umlageverfahren durch private Vorsorge ergänzt worden. Stichwort: Riester. Warum sollte das nicht auch bei der Pflege helfen?

Das kann ja jeder tun. Kritisch wird es, wenn das obligatorisch wird, wenn die Umlagefinanzierung ersetzt wird. Von den amerikanischen Pensionsfonds haben sich in den letzten Jahren viele verspekuliert. 30 Prozent dieser Fonds sind in der Krise pleitegegangen. Dagegen ist unser Umlagesystem doch ein sicheres System.

Sie selbst haben ihre Frau Ankepetra bis zu ihrem Tod gepflegt. Wie hat das Ihren Blick auf das Thema verändert?

Das berührt einen, natürlich. Wir müssen insgesamt mehr und offener darüber sprechen: Wie ist das eigentlich mit der letzten Strecke im Leben? Tot sein ist wahrscheinlich nicht schwer. Sterben kann schwer sein. Für die, die gehen. Aber auch für die, die bleiben. Deshalb ist die Frage, die wir als Gesellschaft beantworten müssen: Wie können wir die Leute besser unterstützen, die sich um ihre Angehörigen, ihre Freunde kümmern. Das Pflegen von Kranken ist nicht nur eine Frage des guten Willens. Das ist auch ein Handwerk, das man lernen kann. Deshalb sind Netzwerke, Hospize, Palliativdienste eine unverzichtbare Größe. Das müssen wir ausbauen.

"Familie spielt weiter eine Rolle."

Die familiären Verbünde lösen sich auf. Die Ehen halten nicht mehr lange. Gerade in den Städten gibt es viele alte Singles. Sind wir für diesen Wandel gewappnet?

Die Familie spielt weiter eine große Rolle, auch wenn nicht alle zusammenleben. Man hat Kontakt, telefoniert miteinander. Das Schlimmste im Alter ist Einsamkeit. Aber das muss nicht sein. Wir sind eine zeitreiche Gesellschaft. Wenn man guten Willens ist, kann man sich kümmern um jene, die einen Gesprächspartner oder eine Nachbarschaftshilfe suchen.

In ihrer Zeit als Arbeitsminister hat die Große Koalition die Rente mit 67 eingeführt. Seit Beginn dieses Jahres greifen die Regeln. Schon mehren sich die Stimmen, von CSU bis SPD, das Ganze auszusetzen. Sind diese Parteien zu feige, unpopuläre Entscheidungen durchzusetzen?

Wir müssen den Einstieg jetzt finden, weil wir eine wirklich gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt haben.

Die Kritiker argumentieren, die Beschäftigungsquote Älterer sei noch lange nicht gut genug.

Die Quote von 50 Prozent ist erreicht. 1998 waren von den 55-Jährigen und Älteren noch 36 Prozent beschäftigt, heute sind das mehr als 60 Prozent. In der Wirtschaftskrise sind die Alten nicht entlassen worden. Man hat sie behalten, weil man ihr Wissen und Können braucht.

"Ich weiß nicht, was 2012 sein wird."

Aber nicht jeder kann bis 67 schwerste Arbeit verrichten.

Das ist richtig. Aber auch nicht jeder 64 -Jährige kann noch hart arbeiten. Die zentrale Frage lautet: Sind wir heute mit 66 so fit wie frühere Generationen mit 64? Ich sage ja. Wer anders argumentiert, stellt das feste Renteneintrittsalter in Frage. Man kann mit mir auch über mehr Individualisierung beim Übergang in die Rente sprechen. Eine Wahrheit aber bleibt: Mit insgesamt weniger Arbeit und Anstrengung geht es nicht.

Wie stark sind Unternehmen und Gewerkschaften in der Pflicht, auf den demografischen Wandel einzugehen - ihn in ihren Tarifverträgen zu berücksichtigen?

Manche Unternehmen sind da vorbildlich, aber viele könnten mehr tun. Ganz besonders die großen Firmen versuchen immer noch, die Älteren rauszuschieben. Bei den Gewerkschaften würde ich mir auch wünschen, dass sie das Thema offensiver angehen. Es gibt schon Tarifverträge, nach denen Leute, die besonders schwer arbeiten, einen Zuschlag bekommen. Den können sie ansammeln, so dass sie am Ende früher rauskönnen ohne Abschlag bei der Rente. Davon muss es mehr geben.

Sie selbst haben angedeutet, Sie wollten Ende der Legislaturperiode aus dem Bundestag ausscheiden. Haben Sie keine Lust mehr?

Ich weiß noch gar nicht, was 2013 sein wird. Gut, ich werde dann 74. Aber was heißt das schon. Mal sehen, wie es so läuft.

Talkrunde in Stuttgart

Abgeordneter Von 2005 bis 2007 war Franz Müntefering Arbeitsminister im ersten Kabinett Merkel. Heute ist er einfacher Abgeordneter im Bundestag und sitzt im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Diskutant Am Donnerstag (19. Januar) diskutiert Müntefering in der Stuttgarter Hochschule der Medien ab 19.00 Uhr über das Thema „When I’m 64 – Altern mit Zukunft?!“ Ergänzt wird die Talkrunde durch Kurzfilme und Auftritte des Poetry-Slammers Björn Högsdal.