Der grüne Parteichef Cem Özdemir sieht in dem SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz den Vertreter einer veralteten Politik.

Berlin - Die SPD will mit Martin Schulz als Spitzenkandidat in den Bundestagswahlkampf gehen. Nun müssen sich die anderen Parteien auf die neue Lage einstellen – auch die Grünen mit ihrem Parteichef und Spitzenkandidaten Cem Özdemir.

 
Herr Özdemir, Martin Schulz ist in Fragen der nationalen Politik bisher nicht profiliert. Sie kennen ihn aus der gemeinsamen Zeit im Europaparlament . Was erwarten Sie von ihm?
Martin Schulz hat dem Europaparlament Aufmerksamkeit und Bedeutung verschafft, dafür haben wir Grüne als leidenschaftliche Europäer Respekt. Er ist aber auch ein Sozialdemokrat aus dem Bilderbuch, und das Buch ist schon etwas in die Jahre gekommen.
Was meinen Sie damit?
Er steht zum Beispiel für eine Retro-Industriepolitik, die nicht darauf abzielt, Kohleausstieg, Klimaschutz und Energiewende voranzubringen. Dafür braucht es eben mehr denn je uns Grüne. In der SPD sehen viele die ökologische Modernisierung unserer Volkswirtschaft nach wie vor als Standortrisiko. Richtig ist aber das Gegenteil: Diese Modernisierung ist zwingend die Voraussetzung, dass wir auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich sind. Das gilt gerade auch für die Automobilbranche.
Die ist modern genug, um glänzende Bilanzen vorlegen zu können.
Stimmt. Nur muss sich viel ändern, damit dies so bleibt. AEG, Nordmende, Telefunken und Grundig waren zu ihrer Zeit auch Perlen der deutschen Industrie und erlebten dann einen Niedergang. Genau das gilt es für die Autobranche zu verhindern. Das emissionsfreie Auto muss endlich in die Massenproduktion. Sonst ist bald nicht mehr Deutschland der Automobilstandort Nummer Eins, sondern China. Dort stehen die Zeichen längst auf E-Mobilität. Eben deshalb muss die Autobranche sich diesem Wandel stellen, um profitabel zu bleiben und auf Dauer Arbeitsplätze zu sichern.
Schulz sagt, dass die SPD wieder den Kanzler stellen wolle. Schafft er das?
Das entscheidet in der Demokratie zum Glück nur einer: die Wählerin und der Wähler. Ich stelle aber fest, dass Schulz im Europaparlament Teil einer informellen Großen Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten war. Da hat er vorweg genommen, was im Herbst auch in Berlin wieder droht: Eine Neuauflage der zerstrittenen, kraftlosen Großen Koalition. Auch an der Stelle sage ich deshalb, dass es auf uns Grüne ankommt, damit endlich ein echter Politikwechsel gelingt.
Das ist ein bisschen kühn. Schulz hat im letzten Europawahlkampf bewiesen, dass er viele rot-grüne Wechselwähler für die SPD gewinnen kann.
Er ist ein starker Wahlkämpfer. Nur haben wir Grüne bei dieser Wahl auch gut abgeschnitten. Und dafür kämpfen wir auch bei der Bundestagswahl – und zwar eigenständig. Wir sind kein Anhängsel oder Beiboot von anderen, sondern die einzig originär ökologische und europabegeisterte Kraft. Und wenn ich mir anschaue, was Trump tut, wird völlig klar, wie wichtig es ist, dass wir Europäer handeln. Niemand sonst wird sich um die Ukraine oder um den Maghreb kümmern. Da sind wir Europäer selbst gefragt – und zwar dringlich.
Was muss der neue Außenminister Sigmar Gabriel tun?
Er sollte sofort eine neue Lagebeurteilung zu Afghanistan vorlegen. Immerhin sind diese auch maßgeblich für die Länder, die dann womöglich aufgrund falscher Lagebeurteilungen vom Bund verpflichtet werden, Abschiebungen vorzunehmen. Afghanistan ist nicht sicher. Dass das Auswärtige Amt eine andere Lagebeurteilung vornimmt, hat nichts mit der bitteren Realität vor Ort zu tun, wo die Taliban und inzwischen leider auch der IS auf dem Vormarsch sind – sondern damit, dass man einen Vorwand braucht, um Afghanen abschieben zu können. Das sind aber inhumane Abschiebungen als Ablenkung.
Als Ablenkung wovon?
Von dem Misserfolg der Bundesregierung in der Maghreb-Politik. Natürlich brauchen wir funktionierende Rückführungsabkommen mit Marokko, Tunesien und Algerien. Die gibt es zwischen Deutschland und diesen Staaten aber leider nicht, weshalb die Große Koalition zur Ablenkung von ihrem Fehlschlag in puncto Maghreb die Abschiebungen nach Afghanistan forciert, um Scheinstärke zu zeigen.