Exklusiv EU-Kommissar Oettinger sieht Europa in einer ernsten Krise – seine digitalen Förderprogramme sollen helfen. Vor allem der Ausbau der Breitbandnetze sei ein wichtiger Bestandteil eines Investitionspakets.

Brüssel - Das Gespräch findet am Abend der ersten Sitzung der neuen Kommission statt, in der er für Digitales zuständig ist. Auf dem Tisch steht Württemberger Wein, da er mit seinem Team, das in der Vorwoche den Gas-Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland vermittelt hat, anstoßen will. Doch nun redet Günther Oettinger über Europas (digitale) Zukunft.
Herr Oettinger, die EU steckt immer noch in ihrer tiefsten Krise. Da hilft es nicht, wenn der neue Kommissionschef gleich zu Beginn als Steuersünder am Pranger steht, oder? Wie soll die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker jetzt noch glaubhaft gegen unfairen Steuerwettbewerb vorgehen?
Die Kommission hat eine sehr starke Kompetenz in Fragen der Wettbewerbspolitik und die dafür zuständige Kollegin Verstager wird hier ihre Arbeit in völliger Unabhängigkeit tun.
Die konjunkturellen Aussichten für Europa sind düster. Wie ernst ist die Lage?
Ich befürchte, wir sind noch nicht ehrlich genug: Die Prognosen gehen nach unten, aber schon wieder sagen wir, im übernächsten Jahr wird alles gut. Das heißt es seit fünf Jahren – und dann klappt es wieder nicht. Die schlechteren Wachstumszahlen bedeuten, dass wir weniger Steuern einnehmen und noch mehr Reformbedarf haben. Aber gerade bei Strukturreformen steht es mit der Umsetzung nach wie vor eher schlecht. Das kann so nicht weitergehen.
Was ist zu tun?
Entscheidend ist, dass wir unsere Wettbewerbsfähigkeit stärken, um so zu solidem Wachstum zu kommen. Sonst können wir die Erwartungen der Bürger nicht erfüllen. Was konkret zu tun ist, sieht von Land zu Land verschieden aus.
Muss Deutschland mehr investieren, wie ihr Kollege Jyrki Katainen gefordert hat? Oder hat die Schwarze Null Priorität?
Man kann darüber streiten, ob Deutschland im eigenen Interesse mehr investieren sollte. Aber wenn wir nächstes Jahr Schuldenbremse und Schwarze Null in Deutschland aufgeben würden, wäre das für andere Länder im Euroraum doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich frage mich nämlich, ob wirklich mehr Fiat-Autos gekauft werden, wenn Deutschland mehr investiert. Das ginge nicht automatisch in Europas strukturschwache Regionen. Der ausgeglichene Haushalt ist wichtiger.
Davon ist Frankreich weit entfernt. Übt die EU-Kommission erneut Nachsicht?
Das Schlimme ist ja, dass in Frankreich die Neuverschuldung nicht nur die Drei-Prozent-Marke nicht erreicht, sondern sich sogar davon entfernt und das obwohl die Fristen bereits verlängert wurden. Man könnte trotzdem ein Jahr mehr Zeit zur Defizitrückführung gewähren, sofern die Probleme Arbeitsmarkt, Staatsquote und Haushaltsstruktur ernsthaft angepackt werden – wenn nicht, ist eine Verlängerung sinnlos.
Paris hat schon zwei Mal ernsthaft Taten versprochen, aber wenig gemacht.
Das waren auch nur reine Ankündigungen. Es würde also helfen, wenn konkrete Gesetzentwürfe in diesen Bereichen vorgelegt würden und man wüsste, ob sie im Parlament mehrheitsfähig sind.
Frankreichs Premierminister Manuel Valls sagt, das ginge Brüssel gar nichts an.
Dieses Bashing der Kommission aus Paris oder Rom oder gerade von David Cameron kann man in keiner Form akzeptieren. Die Mitgliedstaaten haben die EU-Kommission mit bestimmten Aufgaben betraut. So zu tun, als gebe es diese Gesetze nicht – das lassen wir uns nicht länger bieten.
In einem Punkt werden die Pariser Sozialisten aber erhört. Auf EU-Ebene wird ein 300-Milliarden-Investitionspaket den Sparvorgaben gegenübergestellt. Was enthält es?
Es geht darum, vor allem private Investitionen zu mobilisieren. Dabei soll auch die Europäische Investitionsbank eine Rolle spielen. Diese Investitionen sollten in Projekte fließen, die europäischen Mehrwert haben. Wir wollen kein Strohfeuer entfachen, sondern etwa bei den Strukturfonds stärker als bisher darauf achten, ob ein Projekt dauerhaft für den Standort nachwirkt. Bei Investitionen in kluge intelligente Energieverteilnetze, grenzüberschreitende Stromtrassen oder den Ausbau der Breitbandnetze ist das der Fall.
Sie sprechen die Breitbandnetze an. Ist das Ihr Beitrag zum Investitionspaket?
Nicht nur, aber sie bilden die wichtigste Komponente. Wir werden den Ausbau der digitalen Infrastruktur stärker fördern und auch die Eckpunkte ansehen – wie Datensicherheit, Geschwindigkeit und Kapazität. Ich werde in einem Ausbauplan solche Elemente berücksichtigen – wer die Vorgaben erfüllen, bekommt dann EU-Gelder.
Bisher scheuen sich Unternehmen, da der Kunde danach den Anbieter wechseln kann.
Ich muss das mit den Regulierungsbehörden besprechen. Aber wir müssen die Profitabilität solcher Investitionen erhöhen, indem wir etwa den Anbieterwechsel für eine gewisse Zeit untersagen. Ich rede nicht von Monopolen auf ewig, sondern über einige Jahre, in denen man als Investor Planungssicherheit hat. Ähnliche Ausnahmen gibt es auch bei den Energienetzen.
Wo soll jenseits des Breitbandausbaus noch auf EU-Ebene investiert werden?
Ich kann mir im digitalen Forschungsbereich eine höhere Projektförderung vorstellen und würde gern zum Thema Weiterbildung und digitaler Qualifikation etwas vorschlagen. Es geht darum, noch mehr Europäern neue Chancen zu eröffnen.
Von welchen Summen reden wir denn eigentlich. Welchen Teil der 300 Milliarden soll denn für das Digitale bereitstehen?
Es soll ein ordentliches Stück vom Kuchen sein – sei es aus dem EU-Haushalt oder etwa über eine Kapitalerhöhung der Europäischen Investitionsbank. Die konkreten Förderungvorschläge sind bald fertig, aber für genaue Summen ist es zu früh.
Sie sollen einen digitalen Binnenmarkt schaffen? Was heißt das eigentlich konkret?
Das fängt beim einheitlichen Datenschutz an. Da setze ich auf eine Einigung unter den EU-Staaten im nächsten Jahr, zumal nun die Bundesregierung mitmacht. Es geht weiter bei Standards für Datensicherheit und Verbraucherinteressen. Ein Beispiel: In Stuttgart habe ich Sky abonniert, in Brüssel kann ich die Filme nicht sehen. Eine Informationsgesellschaft funktioniert in alten nationalen Grenzen nicht.
Im „klassischen“ Internet ist Europa von Amerika schon abgehängt worden. Jetzt scheint das Stichwort „Industrie 4.0“ die neue Zauberformel zu sein.
Wenn Sie sich anschauen, wie Unternehmen wie Google mit Datenwucht und Kapitalstärke in klassische Wirtschaftssektoren hineinstreben, besteht die Gefahr, dass diese Art der Wertschöpfung aus Europa abwandert. Nun müssen wir unserer Wirtschaft helfen, sich besser auf die digitale Zukunft vorzubereiten. Insofern ist Industrie 4.0 keine Zauberformel, sondern eher ein Weckruf.
Sie wollen das Digitale vor allem in den Dienst der Wirtschaft stellen. Das dürfte vielen Netzaktivisten nicht gefallen?
Ich traue mir zu, eine Balance zu finden. Die Netzgemeinde und die Nutzer des Internet müssen mir nicht sofort blind vertrauen, aber sollten mir eine Chance geben.
Beim geplanten europäischen Urheberrecht ist der Konflikt schon programmiert.
Mir geht es um Werthaltigkeit geistigen Eigentums. Ich kann mir noch so oft wünschen, alles kostenlos zu bekommen - wenn sich ihre Herstellung nicht mehr lohnt, werden am Ende keine neuen Inhalte mehr entstehen, Wir werden daher prüfen, was man auf EU-Ebene etwa bei Steuern und Abgaben machen kann. Ich werde meinen hoffentlich ausgewogenen Vorschlag auch nicht gleich verabschieden lassen, sondern das Gespräch suchen – mit allen Beteiligten von der Netzgemeinde über die Verleger bis zu den Kulturschaffenden.
Stehen Sie für ein eigenes EU-Netz, um die Bürger besser vor US-Diensten zu schützen?
Es geht darum, die Sicherheit technisch zu erhöhen – Europa hat hier hervorragende Unternehmen. Zugleich können die Datenwege so gestaltet werden, dass meine E-Mail von Brüssel nach Stuttgart nicht über Server in Staaten außerhalb der EU läuft.