Dialektsprecher sollten nicht diskriminiert werden, sagt die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese im StZ-Interview. Wieses Spezialgebiet ist das sogenannte Kiezdeutsch, also die Milieusprache Jugendlicher.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Dialektsprecher sollten nicht diskriminiert werden, sagt die Potsdamer Sprachwissenschaftlerin Heike Wiese. Ein Essay von Wiese zum Thema Kiezdeutsch ist auf der Seite der Bundeszentrale für politische Bildung zu finden.

 



Frau Wiese, Kiezdeutsch, also die Milieusprache Jugendlicher, hat keinen guten Ruf. Warum?
Unter Sprachwissenschaftlern sieht kaum jemand Kiezdeutsch als negativ an. Die Öffentlichkeit sieht es hingegen eher kritisch, da stimme ich zu. Der Grund ist einfach: Dialekten gegenüber hat man oft eine schlechte Meinung – vor allem, wenn es nicht der eigene ist. Gehen Sie mal durch Berlin und schwäbeln. Kiezdeutsch ist im Grunde ein deutscher Dialekt.

Was macht diesen Dialekt aus?
Zunächst ist die Sprache offen für neue Wörter, die aus anderen Sprachen importiert werden. „Yalla!“ etwa kommt aus dem Arabischen und heißt „Los!“. Außerdem kann man in Kiezdeutsch Ortsangaben nur mit Nomen ausdrücken, zum Beispiel: „Ich gehe Kino.“ Was das angeht, ist Kiezdeutsch reicher als das Standarddeutsche, wo man hierzu nur Wortstellung und Betonung nutzen kann. Dazu kommen Besonderheiten bei der Aussprache, etwa das gerollte r oder „isch“ statt „ich“. Das haben Sie auch in anderen deutschen Dialekten wie dem Fränkischen oder dem Hessischen.

Wer spricht Kiezdeutsch?
Wir haben einen hohen Anteil mehrsprachiger Sprecher, viele von ihnen sind jung. Für die ist es ganz normal, dass man Zusammenhänge in verschiedenen Sprachen ausdrücken kann, also auf teils ganz unterschiedliche Weise. Hinzu kommen Jugendliche, die einsprachig deutsch aufgewachsen sind. Kiezdeutsch ist ihre gemeinsame Sprache. Doch der Dialekt ist noch jung, dynamisch. Er ist im Werden.

Können die mehrsprachig aufgewachsenen Kiezdeutsch-Sprecher Standarddeutsch?
Dazu gibt es keine validen Daten. Aber grundsätzlich spricht niemand nur Kiezdeutsch, sondern immer auch andere Varianten des Deutschen – umgangssprachliche ebenso wie formellere. In Deutschland ist es generell so, dass der Gebrauch des Standarddeutschen stark von der sozialen Schicht abhängt, denn Standarddeutsch ist eng am Sprachgebrauch der Mittelschicht. Das hat aber nichts damit zu tun, ob jemand Kiezdeutsch spricht oder nicht.

Das heißt, die Gesellschaft im Allgemeinen und Erzieher sowie Lehrer im Besonderen sollten nichts gegen das Kiezdeutsch unternehmen?
Natürlich kann es nicht sein, dass kein Standarddeutsch mehr gelehrt wird. Es ist extrem wichtig in unserer Gesellschaft, das zu beherrschen. Doch ich wette, dass auch bei Ihnen im Sprachgebrauch Elemente sind, die wir auch in Kiezdeutsch finden.

Zum Beispiel?
Das Wörtchen „so“ als Marker für Wichtiges habe ich schon im Literarischen Quartett gefunden und bei Lessing. Oder dass wir die Präposition weglassen: „Steigen Sie Hauptbahnhof um.“ Oder „Lass ma ins Kino gehen“, da fehlt ein „uns“.