Exklusiv Nachdem Griechenland die von den europäischen Partnern geforderte Bedingung für weitere Hilfen erfüllt hat, hält es der frühere Eurogruppenchef Jean-Claude Juncker für möglich, dass Athen einen weiteren Schuldenschnitt braucht.

Brüssel – - Er war der Chef der Eurogruppe. Er ist gegen Eurobonds und sieht viele EU-Krisenstaaten auf einem guten Wege: Jean-Claude Juncker ist Spitzenkandidat der Christdemokraten.
Herr Juncker, in 28 Tagen hat die Europawahl schon begonnen. Werden Sie bis dahin alle 28 EU-Staaten besucht haben?
Ich muss die 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union nicht entdecken, weil ich sie bereits kenne. In meinem langen europäischen Leben bin ich schon überall zu Gast gewesen. Wenn ich also versuche, im Wahlkampf eine maximale Anzahl zu besuchen, wird es eine Wiederbegegnung sein.
Sie sind auch in Deutschland kein Unbekannter. Aber offenbar nicht bekannt genug, damit die CDU Sie plakatiert. Gekränkt?
Nein. Sie werden mich noch auf genug Plakaten in Deutschland sehen. Aber das ist ein lächerlicher Nebenaspekt dieser Wahlkampagne, der überinterpretiert wird und mangelndes Interesse an den eigentlichen Themen verrät. Hängt denn Martin Schulz in Frankreich, in Italien oder Luxemburg? Ich werde auch in Luxemburg nicht plakatiert. Was soll dieser Blödsinn?
Es nährt eben die Zweifel, ob die Sache mit den europaweiten Spitzenkandidaten ernst gemeint ist. Werden Sie wirklich EU-Kommissionschef, wenn Ihre Partei die meisten Sitze im Europaparlament bekommt?
Im EU-Vertrag steht, dass der Europäische Rat seinen Personalvorschlag im Lichte des Wahlergebnisses macht. Deshalb habe ich nicht die geringsten Zweifel daran, dass man sich daran hält. Der Spitzenkandidat der Partei mit der meisten Wählerzustimmung wird neuer Kommissionspräsident. Wer jetzt denkt, man könne in den abgedunkelten Räumen des Europäischen Rates anders entscheiden, marschiert geradewegs auf eine Institutionenkrise zwischen Parlament und Rat und eine ernste Demokratiekrise zu. Man kann die Menschen nicht für eine Wahl begeistern, bei der es erstmals Spitzenkandidaten gibt und nachher so tun, als ob es sie nicht gegeben hätte.
Ihr Wahlkampf ist angelaufen. War es jemals schwerer, für Europa einzutreten?
Man muss blind und taub sein, um nicht zu erkennen, dass sich der Graben zwischen der europäischen Politik und den europäischen Gesellschaften immer weiter verbreitert. Es kommt nun darauf an, dass Europa stärker als Lieferant politischer Lösungen erscheint. Ich will etwa dafür sorgen, dass jeder Kommissar künftig belegen muss, dass ein Gesetzesvorschlag Wachstum und Arbeitsplätze schafft. Die EU-Kommission darf sich nur noch um die großen Probleme kümmern und nicht mehr um alles.
Diese Allzuständigkeit hängt auch am Vertragspassus, der eine „immer engere Union“ fordert. Auch das würde die britische Regierung vor dem Referendum über den Verbleib in der EU gern ändern. Wie stehen Sie dazu?
Ich gehe davon aus, dass für die Vereinbarungen, die man mit Großbritannien wird treffen müssen, keine Vertragsänderungen nötig sind. Vielmehr wird man im Rahmen der bestehen Verträge schauen, was von der Brüsseler Ebene auf die nationale Ebene zurückverlagert wird. Dieses Bekenntnis zu mehr Integration wird also bleiben.
Sie halten es demnach auch für notwendig.
Anfang des 20. Jahrhunderts stellten wir Europäer ein Fünftel der Weltbevölkerung. Ende dieses Jahrhunderts werden es noch vier Prozent sein. Wir verlieren also an Bedeutung. Wäre ich nicht Luxemburger, würde ich sagen, dass jetzt nicht die Zeit ist, um in Kleinstaaterei zu verfallen. Wir müssen vielmehr europäische Kräfte bündeln.
Was sagen Sie den Wählern, die keine weitere Integration wollen und nun mit den entsprechenden Parteien liebäugeln?
Man muss Protestwähler ernst nehmen. Mit rechtsextremen Parteien werde ich nicht sprechen – mit denen, die berechtigte Kritik an der Europapolitik vorbringen, schon. Ich halte etwa die Forderung, die EU in ihre Schranken zu weisen, nicht für abwegig. Die Bürger wissen nicht mehr, wer für was zuständig ist. Man wird die Zuständigkeiten deshalb nicht nur besser erklären, sondern auch neu ordnen müssen.
Sie wollen doch eine Vertragsänderung? Auch um die Währungsunion zu festigen?
Zu den Geburtsfehlern des Euro gehört, dass die Notwendigkeit, die Wirtschafts- und Haushaltspolitik besser aufeinander abzustimmen, unterbeleuchtet blieb. Nun müssen wir überlegen, welche Zusatzinstrumente wir brauchen – ob das nun Vertragsänderungen erfordert oder nicht.
Glauben Sie, die Wähler mit Ihrer Erfahrung der Eurorettung überzeugen können? Nicht alle sehen sie als Erfolgsgeschichte?
Wer jetzt sagt, sie wäre ein Misserfolg, der ist des klaren Blicks auf die Wirklichkeit nicht mehr fähig. Es ist uns gelungen, den Euro als Europas Einheitswährung zu behalten, was keine ausgemachte Sache war. Bis in den Herbst 2012 hinein wurde doch im angelsächsischen Raum intensiv gegen den Euro gewettet. Ich bin stolz, dass viele Leute Geld damit verloren haben.
Es haben auch viele ihre Jobs verloren.
Es stimmt, dass die Hilfsprogramme manchmal von übertriebener sozialer Härte begleitet waren, weil wir uns nicht intensiv genug mit der Situation vor Ort beschäftigt haben. Als EU-Kommissionschef würde ich mich dafür einsetzen, dass es bei zukünftigen Programmen vorher eine soziale Folgenabschätzung gibt. Doch die Programme zeitigen jetzt auch positive Wirkungen. Das Bankenproblem in Spanien ist gelöst. Portugal verlässt den Rettungsschirm, was Irland schon getan hat. Griechenland ist auf dem richtigen Weg.
Gerade wurde Athen bescheinigt, die Bedingung für weitere Hilfen zu erfüllen. Kommt jetzt der nächste Schuldenschnitt?
Ich habe nächtelang einen Schuldenschnitt Griechenlands mit Bankenvertretern und internationalen Geldgebern verhandelt. Ich wünsche keinem Präsidenten der Eurogruppe, das erneut tun zu müssen, aber ich schließe es auch nicht endgültig aus.
In Ihrer Bilanz haben Sie Europas Zentralbank nicht erwähnt. Ohne deren Ansage, notfalls Staatsanleihen aufzukaufen, wären Sie doch gescheitert!
Es hat sich im Laufe der Krise ergeben, dass Geld- und Wirtschaftspolitik nicht ideal, aber zunehmend kooperativ funktionieren. Ich möchte den Beitrag der EZB zur Beruhigung beileibe nicht unterschätzen, aber wahr ist auch, dass alle Eurostaaten sich dem Defizitabbau verschrieben haben. Ohne diese Bereitschaft hätte es auch die Ansage von Mario Draghi nicht gegeben.
Aber das kann doch keine Dauerlösung sein.
Die Wirtschaftspolitik muss ihre Verantwortung übernehmen. Das tut sie auch – in einigen Ländern aber nur ungenügend.
Was ist mit Eurobonds? Sie hätten einen ähnlichen Effekt wie Draghis Ansage.
Ich habe Ende 2010 Eurobonds ins Spiel gebracht, weil wir über keinerlei Instrumente zur Krisenabwehr verfügten. Das ist heute nicht mehr so. Daher stellt sich die Frage derzeit nicht. Übrigens hat auch die SPD von Martin Schulz nichts davon im Koalitionsvertrag untergebracht.
Der wirft Ihrer europäischen Parteienfamilie nun einen viel zu rigiden Sparkurs vor.
Wir sind nicht für blinde Haushaltskonsolidierung. In meiner Zeit habe ich nie erlebt, dass christdemokratische Finanzminister strenger mit Athen umgegangen wären als sozialistische – im Gegenteil.
Vielleicht sehen gerade deswegen viele Wähler kaum Unterschiede zwischen einem Martin Schulz und Jean-Claude Juncker.
Es stimmt, dass es eine große Schnittmenge an Ansichten zwischen ihm und mir gibt. Aber es gibt auch große Differenzen: Sozialisten nehmen für Wachstum mehr Schulden auf. Dabei belegt kein Beispiel aus der Wirtschaftsgeschichte, dass dies automatisch zu mehr Wachstum und Arbeitsplätzen geführt hätte. Ich traue mir zu, die richtige Mischung zwischen Haushaltskonsolidierung und wachstumsorientierter Politik besser hinzubekommen als die Sozialisten.
Wie würden Sie das tun?
Wir sollten uns etwa darauf konzentrieren, einen einheitlichen digitalen Markt zu schaffen und den traditionellen Binnenmarkt auszubauen. Beides brächte in fünf Jahren einen Wohlstandsgewinn von 500 Milliarden Euro. Schulz verspricht, Geld auszugeben, das wir nicht haben.