Der große, alte Herr des französischen Kinos, Jean-Louis Trintignant, liest heute im Alten Schauspielhaus in Stuttgart Lyrik.

Stuttgart Zuletzt war Jean-Louis Trintignant in Michael Hanekes Film „Liebe“ zu sehen, heute eröffnet er das Theaterfestival Sett.
Herr Trintignant, Sie stellen „drei freiheitsliebende Dichter“ vor. Von welcher Freiheit sprechen wir?
Ich meine damit das, was man im Französischen unter „libertaire“ versteht. Das ist eine grundsätzlich anarchistische Haltung – eine Wendung gegen das Establishment, die Konventionen, den Krieg und die Macht. Robert Desnos, Jacques Prévert und Boris Vian sind durch und durch Anarchisten, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht.

Was haben die Dichter zum Thema Europa beizutragen, um das es bei Sett geht?
Ich glaube, dass man heute solche Gedichte braucht, mehr als in manch anderen, ruhigeren Zeiten. Wir haben große gesellschaftliche und politische Probleme, wir leben in einer schlechten Gesellschaftsform. Gedichte können daran nichts ändern, aber ich glaube, sie schaffen so etwas wie eine Utopie, wie Religion oder Politik es vermögen. Nehmen wir den Kommunismus. Er war ein Misserfolg wie auch der Kapitalismus. Ich glaube jedoch, dass der Kommunismus besser ist als der Kapitalismus. Aber die Leute sind noch nicht bereit dafür. Der Kapitalismus macht es ihnen einfacher, er fordert von ihnen viel weniger.

Sie sprechen von der Krise, die wir im Augenblick erleben. Warum haben Sie keine zeitgenössischen Dichter gewählt?
Desnos, Prévert und Vian erscheinen mir sehr modern. Es sind Gedichte, die vor mehr als sechzig Jahren geschrieben worden, aber nicht gealtert sind. In „Etranges Etrangérs“ von 1955 spricht Prévert von illegalen Einwanderern in Frankreich. Das ist doch ein wirklich aktuelles Problem. Die Dichter sind eben oft ihrer Zeit voraus.

Wirken Gedichte stärker auf das Denken der Menschen als das Schauspiel?
Auf jeden Fall. Außerdem liebe ich die Musik. Und die Lyrik ist die Kunstform, die der Musik am nächsten steht. Ich glaube zwar nicht, dass sie die Welt verändern kann. Aber sie kann das Denken der Menschen verändern.

Wie sieht es mit dem Film aus?
Es gibt mehr Dichter, die den Leuten etwas zu sagen haben, als Filmemacher. Ich finde, es werden ohnehin viel zu viele Filme gemacht. Man sollte mit Ausnahme wirklich großer Leute wie Michael Haneke nicht so viele Filme machen. Ich halte sehr viel von Haneke, nicht nur als Filmemacher, sondern auch als Mensch. Er ist ein sehr politischer Regisseur.

Hat Haneke in seinem Film „Liebe“, in dem Sie mitgespielt haben, Ihre Idee der Poesie in Bilder umgesetzt?
Ja, da ist sehr viel von dieser Art Poesie darin enthalten.