Mit dem neuen Album „Joanne“ will Lady Gaga nicht mehr als unnahbares Kunstprodukt wahrgenommen werden, sondern als Mensch wie du und ich, quasi als Gaga zum Anfassen. Beim Interview in einer Bar in Berlin hat sie dafür auch gleich die Sonnenbrille abgelegt.

Frau Gaga, gerade war auf Fotos zu sehen, wie Sie mit Ihrem Dad in einem alten Auto durch Malibu fahren. Worauf sind Sie stolzer? Auf den Führerschein, den Sie erst im Juli gemacht haben? Oder auf Ihr neues Album „Joanne“?
(lacht) Ich bin auf beides stolz – auf die neuen Songs sogar noch ein bisschen mehr. Weil das mehr Arbeit war. Autofahren zu lernen, das geht ja schnell. Diese neue Musik zu machen, das fühlte sich für mich so komplex an wie eine Operation am offenen Herzen.
„Perfect Illusion“ ist eine wilde, Tanz-Disco-Pop-Nummer, die an die 80er Jahre erinnert. Was war der Plan bei diesem Song, den Sie mit Mark Ronson zusammen produziert haben?
So einen ganz konkreten, ausgefuchsten Plan bezüglich der ersten Single hatten wir nicht. Wir haben einfach geschrieben, geschrieben, geschrieben, und zwar so gut wie immer am Piano oder an der Gitarre.
Auf Ihrem vorherigen Album „Artpop“ hatten Sie sich stärker an elektronischen Beats orientiert. Warum diese Rückbesinnung auf traditionelle Instrumente?
Wir wollten sicher gehen, dass die Melodien wirklich klassisch und gut werden. Erst danach haben wir weitere Produktionselemente hinzugefügt. „Perfect Illusion“ hat für mich eine herausragende Energie. In dem Stück steckt so viel Kraft, so viel Wut.
Man kann den Text auch so interpretieren, dass er von der Trennung von Ihrem Verlobten Taylor Kinney handelt. Gegen wen richtet sich die Wut in „Perfect Illusion“?
Meine Wut richtet sich nicht gegen jemanden. Sondern ich bin mit jemandem zusammen wütend. Gemeinsam toben wir gegen die verwirrenden, widersprüchlichen Gefühle, die in uns wüten. Der Song ist keine Abrechnung! So ist er nicht gemeint. In „Perfect Illusion“ steckt nicht die Spur von Hass oder von Rache oder dergleichen.

Wo findet man die Wahrheit?

Allgemein gefragt: Spielen wir nicht alle mit der Illusion?
Wenn ich mir anschaue, was die Menschen in den sozialen Medien, im Internet, treiben, dann möchte ich Ihnen zustimmen. Man sieht fast nichts Authentisches mehr. Alles, was die Menschen von sich preisgeben, sind gefilterte Informationen. Wo findet man da die Wahrheit? Oder die Bilder in den Fernsehnachrichten? Sind die echt? Für mich gibt es hier enge Parallelen zwischen Privatem und Öffentlichem – es ist einfach wahnsinnig schwierig und kompliziert, die wahren Gefühle, die tatsächlichen Realitäten zu erkennen. Wir Menschen lassen uns halt auch sehr gern und leicht in die Irre leiten. Und letztlich sage ich in dem Song auch, dass es okay ist, wenn man sich getäuscht hat.
Sie sind einer der einflussreichsten Menschen der Welt . . .
Ach, kommen Sie.
Jedenfalls hat kaum jemand mehr Follower auf Twitter . . .
Ja, und deshalb versuche ich, diese Begrenzungen einzureißen, die Filter abzubauen. Lasst uns die Illusion vergessen und aufrichtig miteinander umgehen, die Sonnenbrillen ablegen und uns in die Augen blicken.
Auf dem Single-Cover von „Perfect Illusion“ sehen Sie für Ihre Verhältnisse natürlich aus. Ist das Teil einer Art Image-Abrüstung? Immerhin sind Sie die Frau mit dem Fleischkleid!
Songs, Fotos und Videos sollen kein großes Mode-Statement von mir sein. Wichtig ist, dass mich die Menschen als leidenschaftlichen, wilden, vor Gefühlen überquellenden Menschen kennenlernen.
Sind Sie weniger Kunstprodukt als früher?
Sicherlich. Jedes Mal, wenn ich ein Album mache, dann werde ich selbst zu dieser Musik. Meine Mitstreiter auf diesem Album – Mark Ronson, Beck, Florence Welch, Kevin Parker, Blood Pop, Father John Misty bestärken mich darin. Ich lege auf dem neuen Album viel Augenmerk aufs Musikalische, damit fühle ich mich wahnsinnig wohl.
Warum haben Sie ausgerechnet diese Musiker als Partner gewählt?
Ich habe nicht gedacht: „Hey, ich kaufe mir einen Haufen von Indie-Rock-Hipstern ein.“ Meine Überlegung war, von der lyrischen und melodischen Begabung dieser Künstler zu profitieren. Beck zum Beispiel ist in meinen Augen der würdige Nachfolger von David Bowie. Ich verfolge schon so lange, was er macht. Jetzt mit ihm zu arbeiten und „Dancin’ In Circles“ zu schreiben, das war für mich nicht nur eine euphorische Erfahrung, sondern hat auch mein Selbstwertgefühl enorm gehoben.

Projekte mit dem Papa

Wovon handelt „Dancin’ In Circles“?.
Es geht darum, vollkommen im Einklang mit der eigenen Einsamkeit zu sein.
Sind Sie gern einsam?
Bisweilen. Manchmal fühlt es sich aber auch schrecklich an, einsam zu sein.
Sie sind immer von vielen Leuten umgeben. Können Sie überhaupt für sich sein?
Doch, natürlich. Ich bin ja nicht rund um die Uhr in Gesellschaft. Und nur, weil du nicht allein bist, heißt das ja nicht, dass du nicht einsam sein kannst. Ich war schon in einem Raum mit 100 Menschen, mit 1000, mit 20 000, und habe mich sehr einsam gefühlt.
Warum?
Ich werde seit Jahren immer und überall erkannt, das schränkt meine Freiheiten natürlich stark ein. Deshalb ist es mir so wichtig zu betonen: Ich bin genauso wie ihr. Auch nur ein Mensch. Jetzt gerade zum Beispiel machen wir beide einfach unseren Job. Lady Gaga zu sein, das ist mein Job.
Bald ist Präsidentschaftswahl in den USA. Wir müssen nicht darüber sprechen, dass Sie Hillary Clinton bevorzugen. Aber denken Sie, dieses Mal ist die Wahl besonders wichtig?
Ja, ich denke, es ist extrem wichtig, dass die Menschen ihr Wahlrecht nutzen werden. Und noch wichtiger ist es, im Interesse der Allgemeinheit zu wählen. Nicht nur an sich selbst zu denken. Sich nicht nur von seinen persönlichen Gefühlen leiten zu lassen. Du kannst den Leuten nicht vorschreiben, wen sie wählen sollen. Ich mache das nicht. Ich gebe keine Wahlempfehlung. Ich möchte aber die Leute ermutigen, sich einzumischen, mitzumachen. Es wird wichtig dieses Mal, sehr viel hängt von dieser Wahl ab, daran sollten die Menschen denken.
In „Joanne“, dem Titelsong, geht es um die verstorbene Schwester Ihres Vaters. „Joanne“ heißt auch das New Yorker Familienlokal. Jetzt veröffentlichen Sie auch noch ein Kochbuch mit Ihrem Vater zusammen, es heißt „Joanne Trattoria Cookbook“.
Ja, ist das nicht wundervoll? Mein Vater Joe ist so ein bescheidener, lässiger und bodenständiger Mann, und es war immer sein Traum, ein Restaurant zu haben. Jetzt haben wir eins. Uns war wichtig, dass das Lokal kein typischer Promi-Schuppen wird, sondern eine richtig familiäre Trattoria, in der wir unsere italienischen Wurzeln pflegen und zelebrieren. Dad hat dieses Kochbuch zusammengestellt, ich habe das Vorwort geschrieben. Das sind alles Rezepte unserer Familie sowie der Köche, die in unserem Lokal arbeiten. Meine Tante Joanne starb übrigens schon, als sie 19 Jahre alt war. Und ich habe mich immer schwergetan mit dem Schmerz, den mein Vater sein Leben lang empfindet. „Joanne“ ist also ein Song, der hoffentlich heilt.