Vieles von dem, was wir sehr ernst nehmen, lenkt vom Eigentlichen ab, meint Manfred Lütz. Die Schein- und Plastikwelten prangert der Psychotherapeut und Theologe in seinem neuen Buch „Bluff! – Die Fälschung der Welt“ an.

Stuttgart – Was ist das existenzielle Leben? Manfred Lütz hat lange über diese Frage nachgedacht und eine Antwort gefunden: Es ist das Leben, das sich außerhalb der Scheins abspielt. In seinem Buch „Bluff! – Die Fälschung der Welt“ enttarnt er die Plastikwelten.
Herr Lütz, sollen wir uns aus den Welten der Wissenschaft, des Geldes oder des Sports zurückziehen und ein Einsiedlerleben führen?
Nein. Das sind ja wichtige Welten, in denen wir unvermeidlich leben. Aber in all diesen Welten kommen die existenziellen Erfahrungen nicht vor. Liebe kommt da nicht vor, Gut und Böse nicht und auch nicht der Sinn des Lebens. Doch diese Erfahrungen geben jedem Leben den unnachahmlichen Geschmack. Es gibt aber Menschen, die denken zum Beispiel, die Welt sei bloß das, was die Wissenschaft beschreibt. Doch auch der Physiknobelpreisträger liebt seine Frau, das hat er nicht physikalisch gemessen, aber das ist das eigentlich Wichtige in seinem Leben. Wer sich bloß in all den künstlichen Welten verläuft, der verpasst sein Leben, und am Ende steht auf dem Grabstein: „Er lebte still und unscheinbar und starb, weil es so üblich war.“

Sie sind Psychotherapeut. Wie beeinflusst die Scheinwelt der Psychologie unser Leben?
Psychologie ist keine Scheinwelt, aber sie ist auch eine künstliche Welt. Wir Psychotherapeuten können psychische Störungen gut behandeln, und das ist hilfreich. Aber die Menschen denken, wir seien für alles und jedes zuständig. All die vielen Ratgeber führen dazu, dass sich die Leute für sich selbst nicht mehr kompetent fühlen. Dabei hat ein Psychotherapeut, der viele Bücher gelesen hat und jahrelang mit gestörten Menschen in hässlichen kleinen Zimmern gesessen hat, nicht mehr Erfahrung mit dem echten Leben als zum Beispiel ein lebenskluges altes Großmütterchen aus dem Schwarzwald. Existenzielle Krisen wie Trennung, Tod eines Kindes oder auch nur eine Berufskrise, ein schwieriger Chef zum Beispiel, für so etwas sind Psychotherapeuten nicht kompetent.

Und was ist Ihre Legitimation, einen Ratgeber zum existenziellen Leben zu schreiben?
„Bluff!“ ist eben kein Ratgeber, sondern ein Buch, das Menschen ermutigen soll, ihr persönliches unwiederholbares Leben ernst zu nehmen. Das betrifft alle vom Pförtner bis zur Queen.

Wie wichtig ist im richtigen Leben der Glaube an Gott?
Das Buch ist sowohl für Atheisten als auch für Gläubige geschrieben. Denn beide haben letztlich das gleiche Problem, in ihrem begrenzten Leben ihr eigentliches Leben zu verpassen.

Ist die Religion keine künstliche Welt?
Es gibt Sekten, deren Mitglieder tatsächlich in einer künstlichen Welt leben, und es gibt auch all diese esoterischen Plastikreligionen, wo ein Funke östlicher Weisheit mit einer Fülle von westlichem Schwachsinn untrennbar verschweißt markttauglich angeboten wird. Doch diese bunten esoterischen Papierflugzeuge tragen in wirklichen existenziellen Krisen nicht. Aber seriöse Religion kann Menschen für ihre existenziellen Erfahrungen öffnen.

Sie schreiben, dass die fehlende Religion eine Lücke gelassen hat, die wir mit Plastikwelten füllen. Ist das nicht eine Chance? Man kann sich bewusst für den Glauben entscheiden.
Nicht das religiöse Vakuum ist mein Thema, sondern die machtvollen künstlichen Welten, die uns gefangen nehmen. Wenn jemand erschüttert ist vom Tod eines Bewohners der „Lindenstraße“, aber nicht mehr merkt, dass die wirkliche Nachbarin gerade stirbt, dann stimmt etwas nicht. Allerdings glaube ich, dass es guttun könnte, die spirituellen Quellen Europas wieder zum Sprudeln zu bringen, um wir selber zu sein.