Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Im Profisport dreht sich alles nur noch ums Geld. Man nimmt sogar Dopingmittel, um zu gewinnen. Zu meiner Zeit machte das Training einfach nur Spaß. Wir schauten nach den Jungs, wenn wir uns warm liefen. Und nach dem gemeinsamen Essen - wir aßen natürlich, was wir wollten - gingen wir zum Tanzen. Während meiner Stuttgarter Trainingszeit besuchten wir mal das Hindenburgcafé. Ein SS-Soldat wollte sich mit mir verabreden. Wir Mädchen haben uns kaputtgelacht. Ich bin natürlich nicht hingegangen.

 

Spielt der Sport in Ihrem Leben noch immer eine Rolle?

Oh ja! Als wir noch besser zu Fuß waren, gingen wir bowlen und Golf spielen. Dieser Tage schauen wir jeden Tag Baseball im Fernsehen. Bruno ist Anhänger der New York Mets, ich fiebere mit den Yankees. Zum Glück haben wir zwei Fernseher.

Sie sind stolze 97 Jahre und kerngesund. Dabei leben Sie in einer anstrengenden Großstadt und blicken auf ein strapaziöses Leben zurück.

Keine Ahnung, warum ich mich so hartnäckig halte. Vielleicht musste ich sie alle überleben.

Gab es nach Ihrem Sprung über die 1,60 Meter Applaus aus den Zuschauerreihen?

Ich glaube nicht, ich habe jedenfalls nichts gehört. Zwischen mir und den Zuschauern war eine Wand. Ich konnte mich auch nicht recht über die Siegermedaille freuen. Stattdessen ergriff mich eine große Furcht davor, dass mir die Nazis nun etwas antun würden, mir etwa die Beine brechen, damit bei den Olympischen Spielen in Berlin nur ja keine Jüdin aufs Treppchen steigt.

Sie erhielten dann eine Absage vom Reichsbund für Leibesübungen, nachdem sicher war, dass die Amerikaner ihre Boykottdrohung nicht wahrmachen würden. Waren Sie nicht auch etwas erleichtert?

Ein wenig schon. Wie oft hatte ich diesen Albtraum, in Berlin antreten zu müssen unter den Augen von Hitler und seinen Schergen, und die Muskeln versagten mir ihren Dienst. Andererseits werde ich nie verzeihen, wie dieses üble Regime mich und meine Familie zu Marionetten ihrer Rassenpolitik gemacht hat.

Ihre Teamkollegin Dora Ratjen, welche ein Mann war, wie sich 1938 herausstellen sollte, rückte zur Nummer eins auf. Sie war Ihre Zimmergenossin während des Trainings. Hatten Sie nie einen Verdacht?

Nein, nie! Sie zog sich zum Duschen zurück, und wir anderen hielten das für Schüchternheit. Dass Dora ein Mann war, erfuhr ich erst im Jahr 1966, als ich im Wartesaal von meinem Zahnarzt im "Times"-Magazin rumblätterte und "Die Geschichte vom Hochsprungbetrug 1936" fand. Ich musste schreien und lachen, und alle im Wartesaal dachten wahrscheinlich, ich sei komplett übergeschnappt.

Was bewog Sie, im Jahr 1937 nach Amerika auszuwandern? Den Juden drohte noch keine Lebensgefahr in Deutschland, und Ihre Eltern waren noch in Laupheim, der Stadt mit der damals größten jüdischen Gemeinde Württembergs.

Ich konnte dieses Land nicht mehr ertragen, ich konnte aber auch die mitleidigen Blicke der Laupheimer Juden nicht mehr sehen. Ich hatte mit ihnen überhaupt nichts gemein. Meine Familie ging allenfalls zweimal im Jahr in die Synagoge. Mein Leben spielte sich in der Welt des Vereinssports ab, unter lauter Nichtjuden. Von den Jungs, mit denen ich Händchen hielt, war kein einziger jüdisch. Von heute auf morgen wurde ich ausgegrenzt und geschnitten für etwas, das mir selbst nichts bedeutete.

Gekränkt haben Sie Deutschland den Rücken gekehrt. Bis heute sprechen Sie kein Deutsch, Sie haben Ihren Vornamen geändert und den Nachnamen Ihres Mannes angenommen. Haben Sie auch keinen Beethoven mehr gehört und keine Spätzle mehr gekocht? Kann man seine Herkunft ausblenden?

Mein Mann und ich haben schon manchmal Deutsch gesprochen, immer dann, wenn die Kinder uns nicht verstehen sollten. Und Spätzle, Sauerbraten und Saitenwürste stehen bis heute auf unserem Speiseplan. Aber ich habe alle Kontakte abgebrochen und dabei wertvolle Freundschaften verloren. Meine beste Freundin zum Beispiel, sie war ein Mitglied der NSDAP, schrieb nach Kriegsende in einem Brief über Kälte und Hunger. Ich habe ihr zurückgeschrieben, dass meine Schwiegereltern im Konzentrationslager auch kein Luxusleben hatten, bevor sie vergast wurden. Das bedauere ich heute. Zu lange habe ich Verbitterung und Wut mit mir herumgetragen.

Viele Juden sind sich erst im Exil ihrer jüdischen Identität bewusst geworden. Hier in New York findet man etliche jüdische Gemeinden und Organisationen. Machen Sie von dem Angebot Gebrauch?

Überhaupt nicht. Wir sind und bleiben Ungläubige. Leider. Das macht das Leben nämlich schwerer.

Wie lange haben Sie Deutschland und die Deutschen verachtet?

Bis in die achtziger Jahre. Doch irgendwann erhielt ich einen Brief von Burkhard Volkholz, dem Vorsitzenden meines alten Sportvereins TSV Laupheim. Nach Laupheim war der Mann erst in den sechziger Jahren gezogen, er hatte jedoch von meinem Schicksal gehört. Am Ende des Briefes schrieb er: "Deutschland ist Ihnen etwas schuldig." Das berührte mich, und so schrieb ich zurück. Daraus entwickelte sich ein herzlicher Briefwechsel, der meine innere Verhärtung allmählich auflöste.

Dennoch vergingen fast weitere 20 Jahre, bis Sie sich 1999 erstmals in den Flieger nach Deutschland setzten.

Ich haderte noch lange und war dann auch stinksauer, dass sich Berlin für die Olympischen Spiele 2000 beworben hatte. Ich schrieb einen bitterbösen Brief an das Nationale Olympische Komitee. Man lud mich daraufhin nach Deutschland ein, was ich ablehnte. Später folgte eine Einladung zu den Spielen in Atlanta im Jahr 1996. Da konnte ich nicht widerstehen. Dort lernte ich viele deutsche Sportler kennen. Ich verhielt mich zunächst reserviert, aber alle waren so nett und herzlich, dass mir am Ende der Spiele der Abschied richtig schwerfiel.

Anlass Ihrer Rückkehr nach Deutschland war dann eine Preisverleihung in Frankfurt. Anschließend besuchten Sie Laupheim. Mussten Sie sich dazu überwinden?

Ich betone immer, dass ich diesen Flug nur antrat, weil man mir ein Erste-Klasse-Ticket von Lufthansa angeboten hatte. Deutschen Boden zu betreten war nicht einfach für mich. Ich musste mich regelrecht verstellen und all die negativen Gefühle unterdrücken, die in mir hochkamen.

Wie wurden Sie in Laupheim empfangen?

Eine Schulklasse sang mir ein Lied auf Hebräisch vor. Ich war gerührt, wenngleich ich kein Wort verstand.

Besuchten Sie auch Ihr Elternhaus?

Ja, aber da hab ich's nicht lang ausgehalten. Das Haus war in zwei Hälften zerteilt und der Rosengarten meines Vaters verwüstet.

Wie haben sich die Laupheimer Ihnen gegenüber verhalten?

Man hat sich schon sehr bemüht. Es gab eine Veranstaltung mit viel Essen und vielen Rednern. Da begegnete ich auch ehemaligen Klassenkameradinnen und Nachbarskindern. Doch diese Gespräche gingen über den Smalltalk nicht hinaus. Ich glaube, die Leute waren zu verlegen, zu beschämt, um über die Vergangenheit zu sprechen.

Begleitete Ihr Mann Sie?

Nein. Mein Mann hat die Verbitterung nie ablegen können. Seine ganze Familie kam im Konzentrationslager um. Als Bruno mit dem Schiff in New York eintraf, meldete er sich am selben Tag bei der US-Armee.

Sind Sie in Ihrer neuen Heimat, den USA, nie Antisemitismus begegnet?

Nein. Aber in unserer Nachbarschaft fallen beim Barbecue rassistische Sprüche. Auch der Mangel an Wissen ist bei manchen erschreckend. Einmal fragte mich im Flugzeug eine gut situierte Amerikanerin: "Und was hat Sie dazu bewegt, nach Amerika zu kommen?" Ich antwortete: "Das war Adolf Hitler." Da sagte Sie: "Wer ist Adolf Hitler?" Ich sprach den Rest des Flugs kein Wort mehr mit der Dame. In diesem Land ist auch nicht alles ganz koscher.

Immerhin haben Sie in den USA Ihre sportliche Karriere erfolgreich fortsetzen können: 1937 wurden Sie Amerikanische Meisterin im Hochsprung und Kugelstoßen. Hatten Sie nach Ihrer Ankunft in New York sofort wieder Gelegenheit zum Trainieren?

Zunächst ging ich putzen, denn mit vier Dollar in der Tasche, und nur so viel war uns bei der Ausreise gestattet, kam ich nicht weit. Später massierte ich in einem Reducing Salon - so nennt man die Salons zum Abnehmen - übergewichtige Frauen und nahm dabei als Einzige ab. Erst als ein Artikel über mich im "New York World Telegramm" erschien, kam ich mit der Welt des Sports wieder in Berührung. Der Verein Parc Central Athletic Association fragte an, ob ich ihm beitreten wollte. Er bestand aus drei weiteren Mädchen, und Harry, der Trainer, war eigentlich Bestatter. Vom Training hatte er nicht viel Ahnung. Ich sagte immer zu ihm: "Harry, ich kann nur hoffen, dass du deine Toten besser in Form bringst als uns."

Wie endete Ihre sportliche Karriere?

Am 3. September 1939. Ich war auf dem Sprung zu einem Wettkampf, als ich im Radio hörte, dass Deutschland Polen den Krieg erklärt hat. Da verließ mich jede Motivation. Hochsprung erschien mir vor diesem Hintergrund völlig bedeutungslos.

Sie und Ihr Mann Bruno Lambert, der ein Sprinter war, haben zwei Söhne. Sind sie in Ihre Fußstapfen getreten?

Meine Söhne gehören beide zur schreibenden Zunft. Gary, der Jüngere, sprang eine Weile, hat aber irgendwann das Interesse verloren. Das war vielleicht auch gut so.

Warum?

Im Profisport dreht sich alles nur noch ums Geld. Man nimmt sogar Dopingmittel, um zu gewinnen. Zu meiner Zeit machte das Training einfach nur Spaß. Wir schauten nach den Jungs, wenn wir uns warm liefen. Und nach dem gemeinsamen Essen - wir aßen natürlich, was wir wollten - gingen wir zum Tanzen. Während meiner Stuttgarter Trainingszeit besuchten wir mal das Hindenburgcafé. Ein SS-Soldat wollte sich mit mir verabreden. Wir Mädchen haben uns kaputtgelacht. Ich bin natürlich nicht hingegangen.

Spielt der Sport in Ihrem Leben noch immer eine Rolle?

Oh ja! Als wir noch besser zu Fuß waren, gingen wir bowlen und Golf spielen. Dieser Tage schauen wir jeden Tag Baseball im Fernsehen. Bruno ist Anhänger der New York Mets, ich fiebere mit den Yankees. Zum Glück haben wir zwei Fernseher.

Sie sind stolze 97 Jahre und kerngesund. Dabei leben Sie in einer anstrengenden Großstadt und blicken auf ein strapaziöses Leben zurück.

Keine Ahnung, warum ich mich so hartnäckig halte. Vielleicht musste ich sie alle überleben.

Hitlers Geheimwaffe gegen einen amerikanischen Boykott der Berliner Spiele

England: Im Jahr 1934, zwei Jahre vor den Olympischen Spielen in Berlin, denkt Gretel Bergmann nicht im Traum daran, für Deutschland anzutreten. Die junge Hochspringerin aus dem schwäbischen Laupheim lebt seit einem Jahr in England und hat soeben die offenen Britischen Meisterschaften gewonnen. Nach der Machtübernahme Hitlers hatte die jüdische Sportlerin in Deutschland keine Perspektive mehr gesehen. Kurz nach ihrem Sieg bittet sie jedoch der Vater, in die Heimat zurückzukehren, „sonst würde es der Familie schlecht ergehen“, so wurde ihm gedroht. Widerwillig verlässt Gretel Bergmann England und nimmt das Training im deutschen Olympiateam auf. Zu dem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, dass die Amerikaner damit gedroht hatten, die Spiele in Berlin zu boykottieren, sollten keine Juden im Team vertreten sein. Bergmann dient unwissentlich als Lockvogel.

Deutschland: Im Sommer 1936, wenige Tage vor der Eröffnung der Spiele, erhält Gretel Bergmann einen Brief vom Deutschen Reichsbund für Leibesübungen. Darin steht: „Sie werden auf Grund der in letzter Zeit gezeigten Leistungen wohl selbst nicht mit einer Aufstellung gerechnet haben.Heil Hitler!“ Bergmann hat erst wenige Wochen zuvor bei den Württembergischen Meisterschaften in Stuttgart den deutschen Rekord eingestellt und hätte beste Chancen auf eine Medaille gehabt. Doch die Alibijüdin hatte offenbar ihren Zweck erfüllt. Hätte Gretel Bergmann bei den Olympischen Spielen gesiegt, wäre Hitlers Rassentheorie untergraben gewesen.

USA: Im Jahr 1937 wandert Gretel Bergmann nach Amerika aus, wo sie unter neuem Namen ihre sportliche Karriere bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fortsetzt. „The German Mädel“, wie die US-Presse sie nennt, holt in Amerika zweimal den nationalen Hochsprungtitel und einmal den Titel im Kugelstoßen. Margaret Lambert ist heute 97 Jahre alt und lebt zurückgezogen mit ihrem Mann in New York.