Zurück zum Wahlkampf: Überwiegt dort der EU-Frust oder das Interesse, da es so viele aktuelle europäische Themen gibt wie nie?
Es kommt darauf an. Rede ich etwa über die Ukraine, begreifen die Menschen den Wert der EU. Mein Gefühl sagt mir: Wir bekommen eine höhere Wahlbeteiligung.
Umfragen sehen im neuen Europaparlament mehr EU-Gegner. Was, wenn 200 Europaabgeordnete die EU abschaffen wollen?
Ich glaube nicht, dass es so viele sein werden. Ich rechne mit einem Anstieg von derzeit 90 auf 130 bis 140. Schlimmer ist die Situation in einzelnen Mitgliedsländern. Diese Populisten und Europakritiker liegen in einigen Ländern vorn, in anderen sind sie sehr stark. Die entscheidende Frage ist: Was bewirkt der Zuwachs für diese Gruppierungen in den Gesellschaften? Bewirkt das eine Mobilisierung der proeuropäischen, demokratischen Kräfte? Oder doch Angst vor ihrer radikalen Rhetorik und die Anpassung daran? Dann haben sie gewonnen. Deshalb ist der Wahlkampf eine wichtige Gelegenheit, um klarzumachen, dass diese Gruppen für alles einen Sündenbock, aber für nichts eine Lösung haben. Das gilt auch für die AfD in Deutschland.
Für den Zuwachs dieser Parteien gibt es aber Gründe: Lange galt die EU als Garant für Wohlstand und Sicherheit, in der Krise nun nicht mehr. Läuft nicht doch einiges schief?
Sie unterhalten sich mit jemandem, der schon lange davor warnt, jeden, der die EU kritisiert, zum Anti-Europäer abzustempeln. Ich als Pro-Europäer kritisiere die EU auch. Viel Kritik ist absolut gerechtfertigt.
Was regt Sie persönlich am meisten an der EU auf?
Die Ungerechtigkeit. Es gibt eine ganze Generation von Menschen, die mit ihren Lebens- und Zukunftschancen bezahlen für eine Krise, die andere verursacht haben. Ein psychologisches Element kommt hinzu: Wir reden nur noch von Milliarden. Für die meisten Menschen sind schon 1000 Euro im Monat eine Riesensumme. Ich will, dass wir über diese 1000 Euro reden. Derzeit fühlen sich viele Menschen abgehängt.
Was wäre als Kommissionspräsident Ihr erstes Signal an diese Menschen?
Wir müssen zwei Dinge kombinieren: In Krisenländern mit hoher Jugendarbeitslosigkeit ist das größte Problem, dass kleine und mittlere Unternehmen keine Kredite bekommen. Ein EU-Programm, finanziert von der Europäischen Investitionsbank oder aus Strukturfonds, könnte das ändern. Diese Hilfe sollten wir mit folgender Ansage verbinden: Wer im Rahmen dieser Investitionen junge Arbeitslose einstellt, bekommt bei Zinsen und Laufzeiten einen Vorteil. Gelingt uns das – und es muss kurzfristig passieren –, können wir Vertrauen zurückgewinnen. Und ich würde in der Kommission selbst Reformen einleiten.