Exklusiv Martin Schulz, der sozialdemokratische Spitzenkandidat bei der Europawahl, will als Kommissionschef einiges anders machen. Den Vorwurf, er habe keine Verwaltungserfahrung, kontert er: Er kenne die Alltagssorgen der Menschen.

Straßburg - Gegner halten ihm vor, anders als sein Luxemburger Gegenkandidat Jean-Claude Juncker keine Regierungserfahrung zu haben. Der Präsident des Europaparlaments, einst Bürgermeister der Kleinstadt Würselen, hält dagegen: Er kenne die Alltagssorgen der Menschen.
Herr Schulz, dieses Parlament hat zum letzten Mal getagt, die heiße Wahlkampfphase beginnt. Reisen Sie in alle 28 EU-Staaten?
Wir konzentrieren unseren Wahlkampf auf die großen Länder Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Polen, in denen die meisten Menschen leben. Aber ich bemühe mich natürlich, auch in anderen, kleineren EU-Staaten zu sein. Ob ich alle 28 schaffe, weiß ich allerdings nicht.
Wahlkämpfer halten häufig die gleichen oder ähnliche Reden. Geht das bei Auftritten etwa in Portugal oder Polen überhaupt?
Das ist eine der schwierigsten Fragen, wenn man einen europäischen Wahlkampf führen will. Wir haben maßgeschneiderte Kampagnenteile für jedes Land. Allerdings haben wir drei Dinge identifiziert, die in allen Staaten Thema sind. Ersten berührt die hohe Jugendarbeitslosigkeit auch Menschen in Ländern, die nicht so stark davon betroffen sind. Das zweite ist die Gerechtigkeitslücke; dass Spekulanten Milliardengewinne machen, keine Steuern bezahlen, aber bei Verlusten die Steuerzahler dafür zahlen müssen. Das verstehen alle. Das dritte Thema ist, dass nicht alles in Brüssel geregelt werden muss.
Spielt auch die Ukraine eine Rolle?
Natürlich. Auf eine aktuelle Entwicklung mit dieser Dramatik muss man eingehen.
Sehen Sie eine Mitschuld der EU, von der prominente SPDler wie Altkanzler Schröder oder Ex-EU-Kommissar Verheugen reden?
Ich glaube, dass die EU einen gut ausformulierten Assoziierungsvertrag ausgehandelt hatte, der in Vilnius unterschrieben werden sollte. Dass der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch ihn platzen ließ, kann man nicht der EU anlasten.
Ein europäischer Scheck hätte die aktuelle Krise aus Ihrer Sicht also möglicherweise vermeiden können. Was aber ist jetzt zu tun?
Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs hat ein souveräner Staat in Europa das Territorium eines anderen souveränen Staates annektiert. Das musste mit Sanktionen gegen Russland beantwortet werden. Nun muss man die Menschen ehrlich darauf vorbereiten, dass noch mehr davon auf uns zukommen könnten: Das Einfrieren des Kapitals, keine Waffenlieferungen mehr, die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für führende Repräsentanten der Wirtschaft und der Politik, keine Auslandsinvestitionen aus der EU in Russland, Gasimporte stoppen – das ist eine lange Liste von Maßnahmen mit weit reichenden Auswirkungen auch auf unsere Wirtschaft.