Vor einem Jahr sind am Mount Everest 16 Sherpas gestorben. Der Arzt Matthias Baumann kümmert sich um die Hinterbliebenen. Im Interview mit Ben Schieler erzählt er von seiner Reise.

Stuttgart - Am Samstag jährt sich das Lawinenunglück am Khumbu-Gletscher des Mount Everest. Der Tübinger Unfallchirurg Matthias Baumann erlebte den Tag als Expeditionsarzt im Basislager und startete unmittelbar danach eine Spendenaktion für die Hinterbliebenen der verunglückten Sherpas. Im Gespräch mit der StZ zieht er Bilanz.
Herr Baumann, welche Erinnerungen kommen bei Ihnen hoch, wenn Sie an den Morgen des 18. April 2014 denken?
Je näher der Jahrestag rückt, desto intensiver erlebe ich die Momente wieder. Als ich diesen Knall hörte, habe ich sofort realisiert, dass etwas Dramatisches passiert ist.
16 Sherpas starben damals im Eisbruch. Sie haben in den Monaten danach Gelder für deren Witwen und Kinder gesammelt. Wie hoch war die Spendenbereitschaft?
Überwältigend hoch. Vielleicht lag es daran, dass es das größte Unglück aller Zeiten am Everest war. Da ist ein Stein ins Rollen geraten. Dank sehr vieler Spenden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz konnte ich 100 000 Euro sammeln.
Was ist mit dem Geld passiert?
Ich habe lange überlegt. Die Nachhaltigkeit der Spenden war mir wichtig. Viele Experten haben mir geraten, nicht allein Bargeld an die Familien zu geben, weil die Kontrolle fehlt, was sie mit dem Geld machen. Ich habe mich dann entschieden, die Schulausbildung der Kinder zu bezahlen. Das ist, denke ich, eine sinnvolle Lösung.
Sie haben im März, wie bereits direkt nach dem Unglück, die Familien der toten Sherpas besucht. Wie waren Ihre Eindrücke?
Es war ein sehr emotionales Wiedersehen. Als ich vor einem Jahr bei ihnen gewesen bin, habe ich gestaunt, weil die Frauen alle nicht geweint haben. Aber das lag wohl daran, dass sie unter Schock standen und gegenüber ihren Kindern stark sein wollten. Als ich dieses Mal bei Ihnen war, flossen bei fast allen die Tränen.
Die Sherpas haben 2014 nach dem Tod ihrer Kollegen für fairere Arbeitsbedingungen gestreikt. Was ist daraus geworden?
Es hat sich ein bisschen etwas getan, nicht viel, aber immerhin. Da hat der öffentliche Druck geholfen. Die Regierung Nepals hat einen Fonds eingerichtet, in den Teile der Permit-Gelder fließen, also der Genehmigungen für die Bergsteiger. Jede Familie eines verstorbenen Sherpas bekommt nun 5000 US-Dollar statt wie bisher 400. Auch die Route durch den Eisbruch wurde leicht verändert, sie verläuft jetzt weiter weg von den Hängegletschern. Es ist also etwas in Bewegung, aber es sind längst noch nicht alle Bedingungen erfüllt worden. Eigentlich müsste man die Anzahl der Bergsteiger pro Jahr drastisch reduzieren.
Das Unglück hat auch Ihre eigenen Pläne durchkreuzt. Verfolgen Sie weiter das Ziel, den Gipfel des Berges zu besteigen?
Natürlich, der Traum bleibt bestehen. In diesem Jahr versuchen es sehr viele deutsche Höhenbergsteiger von der Nordseite aus über Tibet. Aber ich habe gerade meinen Job gewechselt und kann mir keine zwei Monate freinehmen. Trotzdem: Der Mount Everest bleibt der Mount Everest, er zieht einen an.
Reinhold Messner hat mehrfach die Forderung erhoben, den Massentourismus am Everest zu begrenzen. Stimmen Sie dem zu?
Ja, es sind eindeutig zu viele Bergsteiger. Aber es ist ein schwieriges Thema. Für den Staat und die Menschen ist der Tourismus die wichtigste Einnahmequelle.