Matthias Platzeck macht sich für Gespräche mit den Rebellen im Osten der Ukraine stark. Der Vorsitzende des deutsch-russischen Forums ist der Ansicht, Europa stehe nun vor einer Entscheidung zwischen Krieg und Frieden.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)
Stuttgart - – Der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums sagt, in einem Dialog mit Moskau dürfe es nicht nur um Menschenrechte gehen. Trotz der Konflikte sei man mit Russland im Gespräch. Der Westen solle seine Werte zwar verteidigen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger. Der frühere SPD-Chef zeigt sich hoffnungsvoll, dass eine menschliche Katastrophe im Osten der Ukraine noch verhindert werden kann.
Herr Platzeck, die Welt ist gespalten in der Frage nach dem richtigen Umgang mit Russland, hierzulande hat die Diskussion das deutsch-russische Forum und den Petersburger Dialog erfasst. Was können wir in Zukunft erwarten?
Einige aus dem Petersburger Dialog, vor allem Marieluise Beck von den Grünen und Andreas Schockenhoff von der CDU, haben Kritik am bisherigen Kurs angemeldet. Sie sagen, Kernpunkt des Dialoges muss die Menschenrechtsfrage sein. Ja, Menschenrechte sind etwas ganz Essenzielles. Aber wir würden einen Fehler begehen, wenn wir den von uns angestrebten Dialog der Zivilgesellschaften auf Menschenrechtsorganisationen verengen. Dann würden wir 90 Prozent der russischen Gesellschaft nicht erfassen.
Wie viel erfassen Sie jetzt?
Ein breites Spektrum. Und daraus hat es auch Protest gegeben, unter anderem auch von den russischen Soldatenmüttern und der Helsinkigruppe unterschrieben, die sich ausdrücklich gegen die Sicht von Frau Beck wenden.
Findet im Augenblick überhaupt ein Austausch statt?
Aber klar. Wir haben Arbeitsgruppen zum Beispiel in den Bereichen Kultur, Zukunft, Kirche, Medien und Jugend. Etliche dieser Gruppen haben sich in diesem Jahr bereits getroffen oder werden dies im Dezember noch tun. Nur das Plenum, das Treffen aller, das ist abgesagt worden.
Nach außen werden Reformen oft über Personalwechsel sichtbar. Steht ein Wechsel an?
Ich bin im März zum Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums gewählt worden und habe den Eindruck, dass das Mitgliedervotum weiter trägt.
Dann muss auch die SPD weiter mit Ihnen leben. Werden Ihre Ansichten über die Russlandpolitik dort geteilt?
Friedenspolitik und Entspannung ist ein Teil unserer Tradition, da bin ich mir mit Sigmar Gabriel und Frank-Walter Steinmeier einig. Wir gehen gut miteinander um, auch wenn man nicht in jedem Detail gleicher Meinung ist. Es wäre doch auch fatal, wenn wir es uns abgewöhnten, nachzudenken und Fragen zu stellen, wenn es um Krieg und Frieden geht – und wir stehen in Europa vor genau dieser Entscheidung.
Welches wären die falschen Entscheidungen, dass es nicht beim Frieden bleibt?
Wir würden einen großen Fehler machen, wenn wir den in Minsk ausgehandelten Waffenstillstand und die dazugehörigen Bedingungen nicht mit aller Kraft verteidigen, weiterentwickeln und ausführen. Es wäre auch ein Fehler, die selbst ernannten Machthaber im Osten der Ukraine weiter gänzlich außen vor zu lassen – so ungemütlich und unschön das auch sein mag. Sie sind Realität. Und deshalb brauchen wir, damit kein Zufallskrieg entsteht, eine Pufferzone ohne schwere Waffen. Und wir brauchen schließlich ganz schnell Korridore, um eine humanitäre Katastrophe zu vermeiden. Da sind Millionen Menschen durch den Winter zu bringen. Sie alle haben auch Anspruch auf unsere Hilfe.
Kiew erklärt, alle Bedingungen aus dem Minsker Abkommen erfüllt zu haben. Kann man das von Russland auch behaupten?
Es gibt von der OSZE und anderen unabhängigen Beobachtern die Feststellung, dass es auch nach dem Waffenstillstand von beiden Seiten zu Verletzungen gekommen ist. Es gibt also noch vieles zu tun, ausdrücklich auch von der russischen Seite. Aber ich habe die stille, große Hoffnung, dass die gewaltige Aufgabe, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern, vielleicht sogar verfeindete Seiten dazu bringt, zusammenzuarbeiten. Alleine wird keiner die Millionen Unbeteiligten in der Ostukraine unbeschadet durch den Winter bringen.
Und wie geht es danach weiter ?
Wir müssen umgehend einen breiten Dialog mit Russland starten über eine echte, vernünftige, umfassende europäische Sicherheitsarchitektur. Immer unter der Prämisse, dass die Ukraine dabei nicht der Verlierer sein darf, sondern jederzeit gleichberechtigter Partner. Ich würde mir wünschen, dass wir unsere Werte verteidigen, aber aufhören, sie mit erhobenem Zeigefinger eins zu eins woanders zu implantieren trachten.
Wenn Sie nach vorne blicken, wie sieht die Region in eineinhalb Jahren aus?
Wir brauchen einen neuen OSZE-Prozess, so wie in den 70er Jahren, als auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges etwas verabredet wurde, was unser heutiges Europa erst ermöglicht hat. Der Westen könnte wie damals die Initiative ergreifen und auf die Eurasische Union zugehen. Ich wünschte mir, dass wir in eineinhalb Jahren längst dabei sind, einer politisch stabilen Ukraine Hilfe angedeihen zu lassen, die nachhaltig wirkt. Und ich wünschte mir, dass Kiew und Moskau die Kraft gefunden haben und sich auf dem Weg befinden, die Krim-Frage so zu regeln, dass es für alle Beteiligten akzeptabel ist. Man muss aber leider ganz klar sagen: Es kann in anderthalb Jahren auch ganz anders aussehen.