Im palästinensischen Flüchtlingscamp von Damaskus, das von der syrischen Armee und vom Islamischen Staat belagert wird, gibt es eine Atempause, stellt Martin Glasenapp von Medico International fest. Ein Checkpoint wurde geöffnet, und es werden Nahrungsmittel geliefert.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Womöglich kann die humanitäre Katastrophe im palästinensischen Lager Jarmuk, wo 16.000 Menschen im Süden von Damaskus ausharren, doch noch abgewendet werden.

 
Herr Glasenapp, wie groß ist die Not der palästinensischen Flüchtlinge und Bewohner in dem von der Armee abgeriegelten Lager?
Die Situation hat sich nach der extremen Zuspitzung letzte Woche etwas entspannt. Es hat wohl einen temporären Rückzug der IS-Einheiten in eine Ecke des Lagers gegeben, von der sie auch hineingekommen sind. Nach dem Stand von Montag sind die Kämpfe unterbrochen. Ein Checkpoint wurde unter Armeekontrolle geöffnet, sodass es wieder Nahrungsmittellieferungen ins Lager gibt, wenn auch viel zu wenig. So können die Aktivisten, mit denen wir zusammenarbeiten, wieder Lebensmittel verteilen. Doch selbst wenn die mittelalterliche Hungerblockade aufgrund der internationalen Aufmerksamkeit gelockert wurde, so besteht sie weiterhin.
Was muss als nächstes passieren?
Die Checkpoints müssen geöffnet werden, die Menschen müssen unter UN-Beobachtung gehen oder zurückkommen dürfen. Und die Versorgung muss gewährleistet werden – das liegt alles vor allem in der Verantwortung des Regimes.
Was können die Aktivisten ausrichten?
Ausländische Helfer kommen seit zwei Jahren nicht mehr nach Jarmuk. Selbst die UNRWA, das UN-Hilfswerk für die Flüchtlinge, hat große Probleme, mit Genehmigung des Regimes ab und zu bestimmte Gebiete im Lager betreten zu dürfen. So arbeiten wir mit einer palästinensischen Nichtregierungsorganisation zusammen, die mit relativ vielen Mitarbeitern immer schon in Jarmuk war und dort mit anderen Vertretern der palästinensischen Zivilgesellschaft die Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten hat. In den zwei Jahren der Belagerung durch die Assad-Truppen, aber auch durch die regimenahen palästinensischen Milizen haben sie das soziale und gesellschaftliche Leben am Laufen gehalten – mit Suppenküchen, Medikamentenversorgung, Programmen für die Jugend oder durch die Anlage von Nutzgärten.
Warum verlassen nicht alle das Lager?
Viele der einstmals 250 000 Einwohner des Stadtviertels sind längst gegangen. Die 16 000, die jetzt noch da sind, sind zum Teil die Ärmsten der Armen, 3500 Kinder zudem. Sie können oftmals nicht gehen, weil sie nicht wissen, wohin. Der Libanon nimmt keine Palästinenser mehr auf, und andere palästinensische Lager in Syrien stehen auch unter Beschuss. Es gibt zudem die historische Fluchterfahrung, wonach Palästinenser in ihre verlassene Wahlheimat meist nicht zurückkehren konnten.
Welche Rolle spielt die palästinensische Führung?
Sie hat bisher eine problematische Rolle gespielt und sich erst sehr spät zur Situation in Jarmuk geäußert. Sie hat zwar versucht, Erleichterung auszuhandeln, aber noch letzte Woche hat sie gesagt, das syrische Regime bei der Lösung des Terrorregimes zu unterstützen. Zugleich gab es kurzzeitig die Überlegung der PLO, mit der syrischen Armee das Stadtviertel stürmen zu lassen. Davon hat man glücklicherweise Abstand genommen, was mit dem Protest vieler palästinensischer Organisationen dagegen zu tun hat. So wurde der PLO klar, dass sie dann zu Kollaborateuren eines Massakers würde. Denn dann gäbe es einen Häuserkampf und Blutvergießen ohne Ende. Man darf nicht vergessen, dass ein nicht unbeträchtlicher Prozentsatz der Bevölkerung in Jarmuk in Opposition zum syrischen Regime steht. Viele Aktivisten – auch Mitarbeiter unserer Partnerorganisation – werden mit Fahndungslisten gesucht, etwa weil sie den Wehrdienst verweigert haben. So mussten etliche schon fliehen oder sind in den Folterkellern des Assad-Regimes ums Leben gekommen.