Die Kurden haben die Dschihadisten aus der syrischen Grenzstadt Kobane gedrängt. Martin Glasenapp von Medico International macht derzeit eine Bestandsaufnahme des weitgehend zerstörten Gesundheitswesens und schildert seine Eindrücke.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Stuttgart. - Im viermonatigen Kampf haben kurdische Volksverteidigungseinheiten und Peschmerga die IS-Terrormilizen aus Kobane vertrieben. Nun sind erste internationale Helfer in die Grenzstadt gelangt.
Herr Glasenapp, können Sie Ihre ersten Eindrücke aus der befreiten Stadt schildern?
Als ich vor drei Tagen nach Kobane gekommen bin, war ich zunächst sehr verblüfft über die Zerstörung. Im Zentrum sieht man das Ausmaß besonders. Es erinnerte mich an einzelne Erfahrungen im Gazastreifen, aber dass bis zu 60 Prozent einer Stadt zerstört sind, war neu für mich. Das war sehr erschütternd. Es gibt noch Straßenzüge, die halbwegs intakt sind – besonders im Westen. In anderen Stadtvierteln findet man aber nur noch Trümmerwüste, Krater, zerbeulte Autos, zerschossene Panzer. Ein paar Flüchtlinge sind zurückgekommen, aber kein einziges Geschäft ist geöffnet, so dass es keine Möglichkeit zum Einkaufen gibt. Stattdessen werden Lebensmittel verteilt. Strom gibt es kaum – nachts ist Kobane praktisch unsichtbar.
Liegen noch Leichen auf den Straßen?
Ja, besonders in den östlichen Stadtvierteln, die bis zum Schluss umkämpft waren. Man riecht, dass in manchen Straßenkratern noch Leichen liegen. Stellenweise wurden sie mit Erde zugeschüttet, damit sie nicht von Hunden angefressen werden. Es gibt große Bemühungen, alle menschlichen Überreste wegzuräumen, aber es fehlen Leichensäcke und schweres Gerät, weil auch in den aus der Luft zerstörten Häusern noch Tote geborgen werden müssen.
Wie kam es denn, dass Sie so rasch da waren?
Wie ich hergekommen bin, dazu möchte ich aus Sicherheitsgründen nichts sagen.
Was sind nun die größten Probleme?
Zehn Tage nach der von den Kurden erklärten Befreiung versuchen sich die Menschen zu sortieren. Dennoch ist die humanitäre Situation sehr angespannt. Es gibt wenige Ärzte und Medikamente, aber nach wie vor Verwundete – auch durch Streubomben, Blindgänger und Sprengfallen. Sie werden alle in Kellerkliniken behandelt. In der Stadt halten sich keine IS-Kämpfer mehr auf, wenige Kilometer draußen wird weitergekämpft. Die kurdischen Einheiten können Dorf für Dorf zurückerobern.
Wie reagieren die Menschen auf Sie?
Heute habe ich mit vielen Bauern aus den Dörfern gesprochen, die unter sehr schlechten Bedingungen leben, aber glücklich über die Befreiung sind. Es herrscht Aufbruchstimmung, weil die Leute davon ausgehen, dass der Islamische Staat nicht wiederkehren wird. Man sieht das Lachen über den Sieg, obwohl viele Bewohner Angehörige verloren haben. Ich habe einen alten Mann getroffen, dessen Frau und drei Kinder vor fünf Monaten vom IS entführt wurden – er hat sehr geweint. Und natürlich sind die Kinder traumatisiert.
Wie verhält sich die Türkei?
Es fehlt eine großflächige Versorgung der Menschen und der zu erwartenden Rückkehrer. Da ist Kobane auf offene Grenzen der Türkei angewiesen, die dies aber noch sehr restriktiv handhabt. Wir haben seit Wochen versucht, einen Krankenwagen in die Stadt zu bekommen und dies erst vor drei Tagen geschafft. Die Grenze ist immer wieder mal offen, wird aber sehr stark kontrolliert. Journalisten dürfen, wenn überhaupt, nur für wenige Stunden hinein.
Wie lange werden Sie noch vor Ort sein?
Ich bleibe noch ein paar Tage. Wir als Medico International haben eine Ambulanz geliefert und Medikamente, zuvor eine Blutbank. Nun werden wir mit der medizinischen Kommission der Stadt versuchen, die Lage zu verbessern.