Die Flüchtlingskrise verschärft den Druck: Rund 50 000 Wohnungen müssten zusätzlich in den nächsten Jahren gebaut werden. Standards beim Klima- und Naturschutz müssten dafür nicht aufgegeben werden, sagt Minister Winfried Hermann (Grüne) im Interview.

Stuttgart - Die Flüchtlingskrise verschärft den Druck auf dem Wohnungsmarkt. Durch Zuwanderung und Bevölkerungswachstum ergibt sich ein höher Flächenbedarf. Rund 50 000 Wohnungen müssten zusätzlich in den nächsten Jahren gebaut werden, um die Menschen unterzubringen. Das sei schnell machbar, ohne Standards beim Klima- und Naturschutz aufzugeben, sagt der Infrastrukturminister Winfried Hermann (Grüne). Um Flüchtlinge unterbringen zu können, sind bereits einige Bestimmungen gelockert worden.
Herr Hermann, die Kommunen klagen über den Mangel an Bauflächen und hohe Hürden bei den Genehmigungsverfahren.
Wir sind den Vorwürfen nachgegangen und haben festgestellt: diese sind nicht haltbar. Mindestens 19 000 Hektar sind in den Flächennutzungsplänen in Baden-Württemberg für den Wohnungsbau nutzbar. Dort können die Kommunen sofort und ohne jede weitere Genehmigung einen Bebauungsplan erstellen. Klar ist, dass wir besondere Zeiten mit großen Anforderungen erleben. Natürlich wird man die Flächen zur Verfügung stellen, die gebraucht werden, um die Menschen in unserem Land vernünftig unterzubringen.
Das heißt, diese Kommunen könnten bauen, wenn sie wollten?
Es erstaunt in dieser Debatte schon, dass manche auf andere zeigen und diese für das eigene Versäumnis verantwortlich machen. Das Positive jedoch ist, dass es wieder eine Bereitschaft gibt, auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene sich Gedanken zu machen, wie man den Mietwohnungsbau vorantreiben und wie man die Engpässe beseitigen könnte. Akuten Wohnungsmangel gibt es nicht im ganzen Land.
Nicht alle Gemeinden haben Spielräume für Wohnbebauung in ihrem Flächennutzungsplan. Sie kritisieren, sie könnten trotz der aktuellen Zuwanderung nicht mehr Bauflächen ausweisen, die sogenannte Plausibilitätsprüfung verhindere dies.
Der Einwand kommt häufig, ist aber widerlegbar. Wenn die Einwohnerzahl wächst, ist alles gar kein Problem. Jede Genehmigungsbehörde akzeptiert dann weitere Baulandausweisungen. Die Plausibilitätsprüfung hat eine andere Funktion: Häufig wollen Kommunen mehr Bauland ausweisen, obwohl sie keinen Bevölkerungszuwachs haben. Das können sie auch, aber nur begrenzt durch einen vorgegebenen Zuwachsfaktor. Dieser Zuwachsfaktor wurde 2013 von 0,5 auf 0,3 Prozent reduziert. Daraus wurde die falsche Botschaft: Die Grünen schreiben den Kommunen vor, dass sie Flächen sparen müssen. Fakt ist: Nach wie vor ist mehr Bauland möglich, sogar ohne echtes Bevölkerungswachstum.
Macht es Sinn, die Plausibilitätsprüfung vorübergehend auszusetzen?
Nein. Das Bundesbaugesetzbuch schreibt vor, dass ein Flächenbedarf begründet werden muss. Die Plausibilitätshinweise richten sich an die Genehmigungsbehörden und sollen dazu beitragen, dass es eine einheitliche Vorgehensweise bei der Prüfung gibt. Am Ende entscheidet ganz konkret eine Kommune über Flächenverbrauch und Bauen. Und wenn sie entsprechend der gesetzlichen Vorgaben handelt, dann darf sie auch ein Baugebiet ausweisen.
Versuchen Kommunen die Gunst der Stunde zu nutzen, um sich weitere Bauflächen zu sichern?
Dem hat der Bundesgesetzgeber mit der Leitlinie „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ einen Riegel vorgeschoben. Es kann nicht sein, dass man sozusagen auf Vorrat ein Baugebiet ausweist, obwohl es eigentlich gar keinen Bedarf gibt.
Steht die grün-rote Landesregierung zu Unrecht als regelwütig am Pranger?
Das Land ist als Genehmigungsbehörde gefragt. Wir geben den Genehmigungsbehörden eine Handreichung, wie die Bestimmungen des Baugesetzbuches umzusetzen sind. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hatte das Regelwerk novelliert; die Plausibilitätshinweise, häufig kritisiert als Machenschaft von Grün-Rot, stammen vom früheren FDP-Wirtschaftsminister Ernst Pfister. Genau diejenigen, die jetzt meckern und Grün-Rot Vorwürfe machen, sind für die jetzigen Regelungen im „Pfister-Papier“ verantwortlich. Aber ich finde, diese sind gar nicht so schlecht.
Macht die Bauplanung einen Unterschied zwischen Flüchtlingsheimen und dauerhaftem Wohnungsbau?
Wir als Infrastrukturministerium waren bei der kurzfristigen Unterbringung von Flüchtlingen sehr schnell aktiv. Wir haben für das Land eine Initiative auf Bundesebene vorbereitet, die umgesetzt worden ist: in Gewerbegebieten sind Flüchtlingsunterkünfte möglich, auch in Gewerbehallen selbst. Durch die Änderung der Landesbauordnung ist der Bau von Gebäuden aus Holz erleichtert worden. Das sind keine billigen Baracken für Flüchtlinge oder sozial Schwache, sondern häufig modulare Bauten mit hoher Qualität, die zudem schnell auf- und abgebaut werden können. Beim Wohnungsbau unterscheidet das Baugesetzbuch nicht nach arm und reich, nach Flüchtling oder Einheimischen. Bauen ist bauen für Menschen – und dafür gibt es Regeln.
Und die führen zu Verzögerungen und Verteuerungen?
Die Gründe hierfür liegen häufig nicht im Baurecht, sondern in Nebenbestimmungen wie etwa den energetischen Auflagen oder im Natur- und Landschaftsschutz.
Heißt das, Sie reichen die Verantwortung weiter an Ihre Kollegen, an den Umweltminister Franz Untersteller und den Naturschutzminister Alexander Bonde?
Wo es landwirtschaftliche Flächen gibt oder Landschafts- und Naturschutzgebiete, kann am Rande von Siedlungen nicht ohne weiteres expandiert werden. Eine Aufhebung der Regeln wäre eine Rückkehr zu einem unreflektierten Flächenverbrauch wie in vergangenen Jahrzehnten. Das geht heute nicht mehr. Auch sollten wir nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Teilweise hat man damals schnell und billig gebaut mit dem Ergebnis, dass dies später mit vorzeitigen Sanierungen teuer bezahlt werden musste. Die hohen Energiekosten in den Billigbauten mussten hingegen die Mieter bezahlen, bei Sozialhilfeempfängern die öffentliche Hand. Die gut begründeten Standards des nachhaltigen Bauens, werden wir nicht aufgeben.
Die Lieblingsbeispiele der Opposition für die Verteuerung beim Wohnungsbau sind die von Grün-Rot eingeführten Fahrradabstellplätze und die Dachbegrünung.
An diesen Beispielen lässt sich nachweisen, dass dies ideologisch gefärbte Einwände sind. Was Bauen wirklich teuer macht, sind Autoabstellplätze. Hier ist die vorgeschriebene Zahl pro Gebäude sogar reduziert worden. Jede Kommune kann gar die Zahl auf Null setzen, sei es aus Gründen des Verkehrs, aus städtebaulichen Gründen oder aus Gründen sparsamer Flächennutzung. Fahrradabstellplätze dagegen sind wesentlich billiger. Zudem gibt es keine „Zwangsbegrünung“. Wer einen eigenen Garten oder Grünflächen am Gebäude hat oder wenn eine Fassadenbegrünung technisch nicht machbar oder wirtschaftlich unzumutbar ist, der muss nichts begrünen. Wir Grünen wollen keine Zwangsbegrünung, wir wollen ein gutes Stadtklima, eine lebenswerte Stadt.
Was heißt das für den schnellen Bau von preiswerten Wohnungen?
Keine Großsiedlungen am Rande der Stadt, keine Ghettos, auch nicht im Kleinformat. Gefordert sind integrative Wohnkonzepte, nach Lebensalter, sozial und international durchmischt sowie verkehrlich gut erschlossen, vor allem mit dem ÖPNV. Wichtig ist mir, dass nicht der Eindruck entsteht, nur für Flüchtlinge würden jetzt die Wohnungsprobleme gelöst. Es kann nur eine ganzheitliche Lösung des Problems geben.
Wie kann der preiswerte Wohnungsbau in die Gänge kommen?
Jede Ebene ist gefordert. Der Bund und das Land müssen die Bedingungen für eine öffentliche Förderung des preiswerten Bauens ändern, private Investoren müssen einsteigen, die Kommunen müssen planen. Es muss eine befristete Sonderabschreibung für Mietwohnungsbau geben. Fast alle größeren Kommunen haben genossenschaftliche oder kommunale Wohnungsbaugesellschaften. Ich kann die Kommunen und die Bauwirtschaft nur bitten, dass sie wieder in dieser Richtung mehr aktiv werden und das einfache, preiswerte, aber auch nachhaltige Standards wahrende Bauen ermöglichen.