Seit zwei Jahren regiert die rot-grüne Koalition den Südwesten. Peter Kulitz, der Präsident des Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertags, zieht Bilanz: Kretschmann komme gut an, „Defizite gibt es im Bildungsbereich.“

Wirtschaft: Ulrich Schreyer (ey)
Stuttgart – Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) sollte sein Gewicht in der eigenen Partei, aber auch bundespolitisch stärker in die Waagschale werfen, meint Peter Kulitz. Dies gelte etwa bei Steuerfragen. Er kritisiert die Bildungspolitik.
Herr Kulitz, in der Bevölkerung genießt der Ministerpräsident hohes Ansehen. Wie werten Sie zur Halbzeit der Legislaturperiode?
Die Zufriedenheit kann man sehr gut nachvollziehen. Man muss bei der Landesregierung differenzieren zwischen den einzelnen Ressorts und Ressortinhabern. Der Ministerpräsident kommt sehr gut an. Aber wenn es um Fragen wie Besteuerung, Energieversorgung, Verkehr oder Bildung geht, haben wir wichtige Themen, bei denen wir unsere Stimme erheben müssen.

Einige Unternehmer haben am Wahlabend fast einen Nervenzusammenbruch gehabt. Hat sich die Aufregung wieder gelegt?
Ja. Ich denke schon. In dem Maße, in dem man gemerkt hat, dass die Politik des „Gehörtwerdens“ auch für die Anliegen der Wirtschaft gilt, hat es eine gewisse Beruhigung gegeben. Aber es ist natürlich ein Unterschied zwischen „gehört werden“ und „erhört werden“. Ich habe am Wahlabend spontan gesagt, die Wirtschaft ist jetzt umso mehr gefordert, die neue Regierung mit Rat und Tat zu begleiten.

Die Regierung ist recht holprig gestartet. Haben wir eine noch lernende Regierung?
Lernen ist immer gut. Die Regierung hat in den ersten beiden Jahren einen erheblichen Lernprozess hinter sich gebracht. Einige der ersten Aussagen waren schon befremdlich wie beispielsweise: „Neue Straßen werden keine mehr gebaut, nur noch Fahrradwege.“ Dass wir höchst erfolgreich Autos der Oberklasse nach China exportieren, wird inzwischen auch vom Ministerpräsidenten zu keiner „moralischen Frage“ mehr erhoben.

Wo sehen Sie denn noch Defizite bei der Regierung?
Defizite gibt es nach wie vor im Bildungsbereich. Das gilt etwa für das Ziel, fünfzig Prozent eines Jahrgangs als Hochschulabsolventen zu bekommen.

Haben wir dann zu viele Akademiker und zu wenig Facharbeiter?
Absolut. Ich kann hier auch Zahlen nennen. Wir haben im jährlichen Schnitt zwischen 2013 und 2030 einen Fachkräftebedarf von 220 000 Mitarbeitern allein in Baden-Württemberg. Bei den fehlenden Fachkräften sind nur sieben Prozent Akademiker. Die restlichen 93 Prozent sind beispielsweise höher qualifizierte Fachwirte, Techniker und Meister. Wir sollten nicht alle unsere Jugendlichen in eine akademische Ausbildung drängen.

Sollte sich die Landesregierung also von dem 50-Prozent-Ziel verabschieden?
Eindeutig Ja. Das Ziel, 50 Prozent eines Jahrgangs zu Akademikern machen zu wollen, ist grundfalsch. Wir leben vom Mittelbau der hochqualifizierten Fachkräfte in den Unternehmen. Außerdem proklamieren wir ein falsches Wertebild, wenn wir so tun, als wäre eine akademische Laufbahn das allein Erstrebenswerte.