Der Leiter des Instituts für Pflegewissenschaft, Klaus Wingenfeld, wehrt sich gegen das Aufbauschen von Pflegeskandalen. Die Pflege sei anspruchsvoll und zufriedenstellend.

Berlin - Die große Mehrheit der Bewohner von Pflegeheimen wird aus Sicht von Klaus Wingenfeld zufriedenstellend versorgt. Er kritisiert eine „Skandalisierung“ der Zustände in den Heimen.
Herr Wingenfeld, der Sozialverband vdk will vor dem Bundesverfassungsgericht eine menschenwürdige Pflege per Klage durchsetzen. Wie beurteilen Sie diese Absicht?
Sich für gute Pflege einzusetzen ist natürlich ehrenwert. Aber ich habe mir das Gutachten angeschaut, auf das sich die Klage stützt. Dort wird der Eindruck erweckt, als sei die Versorgung von Heimbewohnern eine einzige Katastrophe. Das hat viel Echo in den Medien gefunden. Nur sieht die Wirklichkeit in den Pflegeheimen anders aus.
Viele Pflegebedürftige seien Opfer von menschenunwürdigen und untragbaren Zuständen, heißt es im Gutachten. Die Aussage stützt sich auf den Bericht des Medizinischen Diensts über Qualitätskontrollen in Heimen – ist sie falsch?
Im Qualitätsbericht steht nichts, was die extrem negativen Aussagen rechtfertigen könnte. Dort ist im Gegenteil nachzulesen, dass die große Mehrheit der Heimbewohner zufriedenstellend versorgt wird. Für Außenstehende ist es allerdings schwer, solche Berichte richtig zu interpretieren. Da gibt es oft Missverständnisse.
Wie sehen die aus?
Es gibt verschiedene Arten von Qualitätsmängeln, über die in den Berichten informiert wird. Dazu gehört eine lückenhafte Dokumentation. Die Pflegenden müssen sehr viel aufschreiben – welche Maßnahmen sie durchführen, wie sich der Zustand des Bewohners verändert, welche Hilfsmittel eingesetzt werden. Sind die Aufzeichnungen unvollständig, wird das als Qualitätsmangel bewertet. Das heißt nicht, dass die Bewohner vernachlässigt werden oder ihre Gesundheit gefährdet ist. Leider wird das in den Berichten oft nicht auseinandergehalten. So entstehen Schlagzeilen über angeblich massenhaft grauenhafte Zustände in der Pflege. Auch das Gutachten, von dem wir eingangs sprachen, übersieht den Unterschied. Es stützt sich zudem auf Medienberichte, was als Quelle in einer wissenschaftlichen Arbeit kurios ist. Ich bin gespannt, was das Verfassungsgericht davon hält, dass jemand massive Kritik leistet, ohne es mit harten Fakten belegen zu können.
Haben wir gar keine nennenswerten Qualitätsprobleme?
Das wäre schön, aber so sieht die Realität nun auch wieder nicht aus. Der größte Teil der Einrichtungen arbeitet, sagen wir mal: ordentlich. Einige Heime stechen positiv heraus, machen sehr gute Arbeit und investieren Zeit und Mühe für herausragende Qualität. Dann gibt es eine Gruppe Heime, in denen wir erhebliche Qualitätsprobleme feststellten. Aber das ist eine kleine Minderheit.
Woran ist ein gutes Heim erkennbar?
Das ist für Außenstehende nicht so einfach. Ein Teil der Häuser bietet Probewohnen an, das kann man nutzen. Ansonsten ist es wichtig, sich über den eigenen Bedarf und die eigenen Erwartungen klar zu sein. Braucht jemand zum Beispiel eine spezielle Versorgung, für die speziell fortgebildete Mitarbeiter benötigt werden? Die Räumlichkeiten würde ich mir auch immer ansehen. Und gezielt Fragen stellen: Was tut die Einrichtung für die Zusammenarbeit mit Angehörigen? Für die Zusammenarbeit mit Ärzten und Krankenhäusern? Was tut die Einrichtung für die Qualitätssicherung, und wie informiert sie die Bewohner und die Angehörigen darüber? Das kostet Zeit und Arbeit, aber die sollte man investieren. Nur nicht den Fehler machen und bei der Suche nach einem Heim nur auf den Preis achten. Es ist ratsam, sich mehrere Heime anzuschauen. Ein Vergleich hilft bei der Beurteilung.
Sie erkennen bei der Qualität beachtliche Unterschiede. Wie kommen die zustande?
Teilweise hat es damit zu tun, wie viele Mitarbeiter vorhanden sind und wie gut sie ausgebildet sind, teilweise damit, wie eine Einrichtung ihren Auftrag versteht, Qualität zu sichern. Dank der gut ausgebauten ambulanten Pflege kommen heute viele Menschen ins Heim, wenn sie hochbetagt sind. Viele sind schwer krank und leiden an einer Demenz. Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, diese Menschen so zu unterstützen, dass ihre Gesundheitsprobleme in Grenzen bleiben und ihre Fähigkeiten erhalten bleiben und dass der Lebensalltag ihren Bedürfnissen entspricht. Die Einrichtungen und ihre Mitarbeiter haben also hohe fachliche Anforderungen zu bewältigen. Sie müssen permanent aufmerksam sein, um auf gesundheitliche Krisen oder Probleme sofort reagieren zu können. Das gelingt im Alltag leider nicht immer gut.
Müssen wir in der Öffentlichkeit nicht gerade deshalb hellhörig sein?
Auf jeden Fall – aber wir lösen die Probleme nicht, indem einzelne Pflegeskandale aufgebauscht werden. Dann erreicht man das Gegenteil. Gut qualifizierte Fachkräfte wollen nicht in einem Bereich arbeiten, in dem sie permanent unter Verdacht stehen, schlecht zu pflegen oder ihre Aufgaben zu vernachlässigen. Sie wandern ab in andere Pflegebereiche. Das ist fatal: Gerade dort, wo wir dringend Fachlichkeit brauchen, vergraulen wir diejenigen, die die Fachlichkeit gewährleisten können. Auch schafft man eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit bei den Pflegebedürftigen. Wir brauchen in der Gesellschaft mehr Bereitschaft, uns nüchtern mit der Lebenswirklichkeit in den Heimen auseinanderzusetzen, mit Licht und Schatten. Aber bitte nicht mit realitätsfernen Übertreibungen und skandalisierenden Überschriften.