Mike Leigh ist auch mit 71 Jahren noch immer ein Kraftzentrum des britischen Kinos. In dem Film „Mr. Turner“, der gerade in unseren Kinos angelaufen ist, porträtiert er den Maler William Turner. „Er ist der Gegenpol zu mir“, sagt der Regisseur.

Stuttgart – - Der Maler William Turner ist 1851 gestorben, doch sein Werk ist noch immer quicklebendig und keineswegs in die Magazine der Museen abgeschoben. Selbst posthum genießt er mehr Erfolg als die meisten Figuren in den Filmen des Briten Mike Leigh zusammengenommen. Der sozial sehr scharfsichtige Regisseur von „Naked“, „Geheimnisse und Lügen“ und „Vera Drake“ sieht „Mr. Turner“ aber keinesfalls als Bruch in seinem Werk. „Ich bin meinen Obsessionen treu geblieben“, sagt der 71-jährige Mike Leigh.
Herr Leigh, bei der Betrachtung von Kunst beginnen wir sofort auch mit Mutmaßungen über den Künstler. Sind Sie bei der Arbeit an „Mr. Turner“ auf den Mann gestoßen, den Sie aus den Bildern zu kennen glaubten?
Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch eine klare Vorstellung von jenem Turner habe, den ich eventuell einmal finden wollte. Ich habe viel über die Figur gelesen und wollte den Mann zum Leben erwecken, der mir da begegnet ist. Herausgekommen ist dabei ein komplexer, auch komplizierter Charakter, der mir ziemlich quellentreu erscheint. Aber wie bei allen meinen Filmen gab es Überraschungen im Lauf der Arbeit. Wenn die Figur einmal zu leben anfängt, entdeckt man auch Neues an ihr.
Die Überraschungen entstehen auch dadurch, dass Sie Filme in einer intensiven Laborsituation mit den Schauspielern entwickeln und Raum zur Improvisation lassen. Konnten sie diese Methode bei einer historischen Figur überhaupt anwenden?
Oh ja, ich wüsste gar nicht, wie ich je anders arbeiten sollte. Diese Methode haben wir auch bei „Topsy-Turvy“ genutzt, der ebenfalls von historischen Figuren erzählt.
In Deutschland ist „Topsy-Turvy“ sicher Ihr unbekanntester Film, weil die Hauptfiguren, die Musiktheatermacher Gilbert und Sullivan, hierzulande kaum jemand kennt.
Ach, das ist gar nicht der Grund. Man konnte ihn nicht sehen, weil kein Verleih ihn herausbringen wollte.
Was mit Ihrem Image zu tun haben dürfte. Von Mike Leigh erwartet man Filme über das Leben im Hier und Jetzt, am Rande und in Krisen. Wie passt ein Biopic wie „Mr. Turner“ in Ihr sozialkritisches Werk?
Da muss man gleich mal die Frage stellen, ob es sich um ein Biopic handelt. Mir geht es immer um Menschen, auch Turner ist einer. Hier taucht doch ein ganzes Bündel meiner Themen und Besessenheiten auf: Menschen und ihre Arbeit, ihre Beziehungen untereinander, die Rollen von Mann und Frau, Zugehörigkeit und Außenseitertum, die Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft. Der Auseinandersetzung mit diesen Themen bin ich treu geblieben.
Was stört Sie denn am Etikett „Biopic“?
Ach, um ein Biopic zu drehen hätten wir mit Turners Geburt anfangen, einen dicken kleinen Jungen für die frühen Jahre und einen pickligen Jugendlichen für die Phase danach finden müssen. Die Zuschauer müssten durch alle Ereignisse des Lebens waten und bekämen alles sauber bewertet und eingeordnet. „Mr. Turner“ erzählt nun immerhin von den letzten 26 Jahren in seinem Leben, eine lange Strecke für meine Verhältnisse. Aber ich wollte keine Zettelchen überall hinkleben, auf denen steht, welches Jahr wir schreiben und wo wir uns gerade befinden. Diese Vereinfachung finden Sie in Biopics alter Schule.
Einige Kritiker haben „Mr. Turner“ als heimliches Selbstporträt von Mike Leigh als missverstandenes Genie gedeutet.
Kompletter Blödsinn. Das ist kein Film über mich, sondern über eine andere Person. Schlimmer Unfug, wie jeder bestätigen kann, der mich kennt.
Auch wenn man Sie nicht persönlich kennt, kann man eine andere Deutung finden. Aus dem Werk von Turner könnte man die paar Bilder mit Menschen entfernen und hätte doch immer noch das essenzielle Schaffen des Mannes vor sich, die Mysterien von Licht und Landschaft. In Ihren Filmen ist es umgekehrt. Da könnte man die Szenerien entfernen und die Schauspieler auf kahler Bühne agieren lassen . . . Bilden Sie und Turner Gegensätze, die einander anziehen?
Das ist ein schöner Gedanke. Gefällt mir. Wobei ich schon betonen möchte, dass meine Filme auch von ihren Schauplätzen leben. Ich würde Schauspieler nie auf eine kahle Bühne stellen. Für das Leben meiner Figuren sind Räume und Gegenstände, die Tages- und Jahreszeiten und das momentane Licht sehr bedeutend. Aber Sie haben trotzdem recht, was Turner als Gegenpol zu mir angeht. Er war ein Genie und ein großer Maler, aber, Teufel nochmal, Menschen hat er nicht gut hinbekommen.
Sie haben wie Ken Loach, Stephen Frears und einige andere britische Filmemacher bei der BBC begonnen. Reizt Sie das derzeitige Hoch der Qualitätsserien nicht, mal wieder fürs Fernsehen zu arbeiten?
Die BBC von einst war ein liberaler Sender, in künstlerischer wie politischer Hinsicht. Es gab keinen Druck von Hierarchen und keine Quotenangst. Es gab ja auch nur drei Kanäle. Heute sind alle verschreckt, nervös, neurotisch, weshalb die Arbeit gar nicht ohne Einmischungen ablaufen kann. Das lockt mich überhaupt nicht. Ich bin der Idee des Kinos auch viel zu verfallen, der Vorstellung, dass Menschen zusammenkommen, um sich einen Film gemeinsam anzuschauen. Und davon mal abgesehen: auch bei einem niedrig budgetierten Kinofilm wie „Mr. Turner“ steht mir pro Minute sehr viel mehr Geld zur Verfügung als bei einer TV-Produktion.