Von politischer Korrektheit hält Robert Spaemann so wenig wie von einem Denken in Schubladen. Am Samstag wird er 85.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eigentlich würde Robert Spaemann gerne schöne Dinge tun und nicht mehr die Last des Schreibens auf sich nehmen. Und doch äußert sich der in Stuttgart-Botnang lebende Philosoph immer wieder zu drängenden Zeitfragen. Seinen Geburtstag wird er in der Abgeschiedenheit eines Klosters verbringen. Zuvor jedoch war er bereit zu einem Gespräch.

 

Herr Spaemann, wohin blickt man mit 85 Jahren, nach vorn oder zurück?
Beides. Wenn man nicht nach vorne blickt, lebt man nicht mehr. Und wenn man nicht zurückblickt, wird das Leben kümmerlich.

Sie mischen sich immer noch ein. Für die einen blicken Sie dabei zurück, sie halten Sie für einen Konservativen; für die anderen blicken Sie nach vorn – fortschrittlich, grün. Wer hat recht?
Es ist ärgerlich, wenn man einen erwachsenen nachdenklichen Menschen immer irgendwo in einer Schublade unterbringen muss. Ich habe das Denken in Lagern nie nachvollziehen können.

Sie haben einmal gesagt, Ihr Plädoyer für die Moderne speise sich aus der Verehrung des Untergehenden. Sind Sie also ein Modernist?
Alle Modernismen, die auf Schmähung der Vergangenheit beruhen, bereiten mir Unbehagen. Ebenso ein Konservatismus, der glaubt, man müsse an allem Vergangenen festhalten. Die Athener hatten einen König, Kodros. Als er erfuhr, dass das Orakel geweissagt hatte, im Krieg mit Sparta werde die Partei gewinnen, deren König getötet wurde, verkleidete er sich als Sklave und provozierte einen spartanischen Soldaten, der ihn erschlug. Die Spartaner zogen, als sie das entdeckten, sofort ab. Die Athener hielten niemanden für würdig, Nachfolger dieses Königs zu sein, deshalb gründeten sie einen Staat, dessen Königsthron leer blieb. Die Demokratie, das Neue, entsteht aus der Achtung des Vergangenen.

Ist die Philosophie nicht selbst ein alter König, der von der modernen Wissenschaft bedrängt wird?
Im Gegenteil. Angesichts der Vorstellung von der unendlichen Machbarkeit, die sich anschickt, das Universum in ein virtuelles Konstrukt zu verwandeln, ist es die Aufgabe der Philosophie, an die Wirklichkeit zu erinnern.

Wird sie dem gerecht?
Ich glaube, dass sich das moderne Denken schon seit Jahrhunderten in eine bestimmte Richtung bewegt, an deren Ende die Abschaffung des Menschen steht. Wir werden von einigen Hirnforschern darüber belehrt, dass wir nicht das sind, wofür wir uns halten, dass wir keine freien Wesen sind und daher auch keine Verantwortung haben: Aber wenn wir so weit gekommen sind, haben wir den Menschen abgeschafft.

Im Bereich des Rechts werden die Thesen der Hirnforscher heftig diskutiert.
Aber der Frage, wie wir unsere Rechtsordnung gestalten sollen, stehen sie hilflos gegenüber. Unserer Rechtsordnung basiert darauf, dass wir in gewisser Weise für unser Handeln verantwortlich sind. Sie können nur wegen Dingen, die Sie getan haben, eingesperrt werden. Geht es nach den Hirnforschern, sind Sie nie schuld an dem, was Sie getan haben. Deshalb sperrt man Sie lieber vorsorglich ein, wenn Tests auf eine kriminelle Veranlagung deuten. Etwas wie Strafe gibt es dann nicht mehr, nur noch vorsorgliche Sicherungsmaßnahmen. Eine fürchterliche Welt.