Schon 18-Jährige gehen gruppenweise ins Bordell, am besten dorthin, wo es wenig kostet. Das Leid der Zwangsprostituierten ist ihnen egal. Die Stuttgarter Sozialarbeitern Sabine Constabel fordert deshalb eine neue Wertedebatte – und schärfere Gesetze.

Jeden Tag verkaufen in Stuttgart etwa 500 Frauen ihren Körper. Die Verhältnisse im ältesten Gewerbe haben sich verschärft. Sabine Constabel, die das Prostituierten-Café La Strada leitet, fordert stärkere Eingriffe des Gesetzgebers.
Frau Constabel, seit geraumer Zeit wird wieder über das Thema Prostitution diskutiert, hier in Stuttgart, aber auch in Berlin.
Und das erstaunliche ist, dass die Debatte lange anhält. Sonst ist das für die Medien meist nur ein Sommerlochthema gewesen.
Haben sich die Verhältnisse so zugespitzt?
Prostitution ist sichtbarer geworden. Früher war das Milieu eine abgeschlossene Welt, obwohl es auch einen Straßenstrich gab. Damals haben sich aber gestandene Frauen am Straßenrand anboten. Heute stehen da ganz junge Mädchen und in der Nähe sieht man Männer, die eindeutig ihre Zuhälter sind. Dass ein Zuhälter neben einer 18-jährigen Prostituierten steht, das gab’s vor 15 Jahren nur im Fernsehen. Daher rührt die Betroffenheit.
Woher kommen die Mädchen?
Die meisten sind aus Osteuropa. Das wissen wir aus der Polizeistatistik. 83 Prozent sind Ausländerinnen, ein Großteil stammt aus Rumänien, Bulgarien und Ungarn.
Was sind die Ursachen dieser Veränderung?
Zum einen wirkt sich die Lockerung des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2002 aus, zum anderen die EU-Osterweiterung von 2003, wodurch ein Zustrom von Armutsmigranten eingesetzt hat.
Wächst der Zuzug, seit Rumänen und Bulgaren völlige Personenfreizügigkeit genießen?
Nein. Personen aus diesen Ländern dürfen in der EU nun auch abhängig beschäftigt arbeiten. Selbstständig durften sie schon vorher tätig sein. Und Prostituierte sind ja pro forma selbstständig.
Sind Osteuropäerinnen besonders von Zwangsprostitution betroffen?
Zwangsprostitution gibt es auch unter deutschen Prostituierten. Aber bei Osteuropäerinnen ist sie tatsächlich besonders ausgeprägt. Diese Mädchen wären gar nicht in der Lage, alleine hierher zu reisen. Die könnten sich weder eine Fahrkarte leisten, noch könnte sie sich mangels Sprachkenntnissen ein Zimmer suchen. Es gibt um die Mädchen herum eine Struktur von Männern, die sie zur Prostitution führen.
Wie funktioniert dieses System?
Viele Frauen kommen aus Familienverbünden, denen es sehr schlecht geht. In der Familie wird entschieden: wir schicken ein Mädchen nach Deutschland – die Tochter, die Nichte, die Cousine – und machen mit ihr Geld. Dann reisen ein oder zwei Familienmitglieder mit ihr hierher, bringen sie ins Bordell oder stellen sie auf die Straße.
Diese Einbindung in die Familie macht den Ausstieg für die Frauen sicher schwer.
Der Ausstieg ist enorm schwer, die Strafverfolgung aber auch. Durch die Gesetzesänderung von 2002 reicht es für die Polizei nicht mehr zu wissen, dass die Frau dauernd Geld abgibt und ihre Tätigkeit nicht selber organisiert. Vor 2002 konnte sie sich dann den Zuhälter greifen. Jetzt muss die Frau zudem aussagen, dass sie von ihrem Bruder, ihrem Vater oder manchmal sogar von der Mutter zur Prostitution geschickt wird. Das macht keine.
Wie ist der Umgang der Freier mit den Frauen?
Die Frauen erzählen, dass die Freierwünsche sehr viel aggressiver und grenzenlos geworden sind. Die Freier scheinen gar nicht darüber nachzudenken, dass sie es mit Menschen mit Gefühlen zu tun haben. Vielen Frauen sieht man an, dass sie Zwangsprostituierte sind. Sie haben Hämatome, sie weinen und zeigen, dass sie nicht wollen. Auf Nachsicht können sie nicht hoffen. Die besondere Fügsamkeit wird sogar nachgefragt. Das ist makaber.
Was macht dieses Leben mit den Frauen?
Sie wissen, dass sie psychisch zerstört werden. Sie finden ihre Lage grauenvoll, aber sie sagen: ich mach’s für meine Familie. Manche fühlen sich als Märtyrerinnen, weil sie in dem Bewusstsein aufgewachsen sind, dass sie sich für ihre Familie hingeben müssen. Sie machen das, bis sie so depressiv sind, dass sei kein Geld mehr erwirtschaften. Viele fangen an, aufputschende Drogen zu nehmen, weil sie so lange Arbeitszeiten haben. Unter 18 Stunden kann kaum eine bestehen.
Wegen des Preisverfalls auf dem Straßenstrich und in den Bordellen?
Die Zimmerpreise in den Bordellen sind in Stuttgart hoch, sie liegen zwischen 120 und 140 Euro am Tag. Die Frauen erwirtschaften das in der Regel in 30-Euro-Schritten. So viel zahlt der Freier für die Dienste.
Wie kommt es zu diesem Preisverfall?
Auch das hat mit dem Prostitutionsgesetz zutun. Seither können die Bordelle werben. Sie verkaufen sich als Wirtschaftsunternehmen, die Wellness für den Mann anbieten. Prostitution wird banalisiert, die Frauen sind lediglich Konsumartikel. Und die Werbung zieht. Da gehen ganze Gruppen von jungen Männern hin. Kino oder Puff – das schenkt sich für viele nichts. Sie gehen dorthin, wo es am günstigsten ist. Das ist das Problem. Viele sagen, fünf Euro für Oralverkehr, das reicht für eine Osteuropäerin. Eine gestandene deutsche Hure macht für 30 Euro nichts, die würde den Freier eher rausschmeißen.
Das Prostitutionsgesetz von 2002 war also der große Sündenfall?
Das Gesetz hatte die selbstständige autonome deutsche Hure im Fokus. Stattdessen kamen mit der EU-Osterweiterung lauter Zwangsprostituierte hierher. Für die war das Gesetz kontraproduktiv. Deshalb muss nun die unselbstständige osteuropäische Zwangsprostituierte im Fokus sein. Sie profitiert von behördlichem Zwang, weil dieser den Zuhälter trifft. Regelungen wirken entlastend auf die Frauen.
Sind die Verhältnisse in Stuttgart besonders schlimm oder typisch für eine Großstadt?
Stuttgart zieht viel Aufmerksamkeit auf sich, weil im Umland zum Beispiel das Paradise sitzt, das aggressiv wirbt, und weil es in Fellbach den unrühmlichen Pussy-Club gab. Aber hier ist es keinesfalls schlimmer als in anderen Städten – im Gegenteil. Stuttgart hat sehr früh angefangen gegenzusteuern. Das La Strada gibt es schon seit 18 Jahren. Soziale Hilfen für Prostituierte existieren seit 1953. Flatratebordelle wie den Pussy-Club findet man überall, bei uns aber nicht mehr. In anderen Städten wird noch ganz anders geworben: eine Frau, ein Bier und eine Rote – für 14 Euro...
Trotzdem: Was muss die Stadt jetzt tun?
Man muss den Zustrom der Armutsprostituierten bremsen. Das kann die Stadt nicht tun, das muss der Bundesgesetzgeber ändern. Sonst verschärft sich die Lage weiter.
Aber den illegalen Straßenstrich könnte man doch jetzt schon vor Ort mehr eindämmen.
Der wird massiv eingedämmt. Das war mal ganz anders. Es gibt heute eine fast lückenlose Kontrolle. Schauen Sie sich mal den Straßenstrich in Berlin oder Frankfurt an, das ist eine Nummer härter. Wir jammern hier auf verdammt hohem Niveau.
Also gut – was muss der Bund tun?
Er muss das Einstiegsalter auf mindestens 21 Jahre erhöhen. Eine ältere Frau wird ihre Rechte eher wahrnehmen. Die Meldepflicht für Prostituierte muss kommen. In Stuttgart haben wir Zahlen, bundesweit gibt es die nicht. Besonders wichtig ist, dass der Bund objektive Straftatbestände einführt, damit die Frauen nicht mehr aussagen müssen. Dafür sind Kriterien nötig, an denen Ausbeutung erkennbar wird: wie das Geldabnehmen oder das Fahren ins Bordell. Auch das Weisungsrecht muss zurückgenommen werden: Der Bordellbetreiber darf seit 2002 Arbeitszeiten vorschreiben. Nur dadurch laufen die Bordelle.
Die Profiteure der Prostitution sollten also geschwächt werden.
Dazu zählen auch die Vermieter. In den Unterkünften – offiziell gibt es keine Bordelle – gilt keine Mietobergrenze. Das muss sich ändern. Die großen Profiteure der Prostitution sind die Vermieter, die Betreiber der Prostitutionsstätten und die Freier. Wer nicht profitiert, sind die Frauen.
Im Koalitionsvertrag steht, Freier, die wissentlich und willentlich Opfer von Zwangsprostitution zu sexuellen Handlungen missbrauchen, sollen bestraft werden. Geht das in die richtige Richtung oder ist das ein zahnloser Tiger, weil kaum nachzuweisen?
Das ist wie bei der Kondompflicht – auch da steht kein Beamter daneben und passt auf. Es geht auch um Pädagogik und darum, ein Signal zu setzen. Und das ist wichtig.
Sie sind für die Kondompflicht für Freier?
Ja, das wäre sinnvoll. So eine Regelung schützt die Frauen und stärkt sie in der Durchsetzung. Über die Hygieneverordnung könnte das Land das einführen.
Wenn das meiste an Bund und Land hängt: Was bleibt für die Stadt übrig zu tun?
Sie kann ein starkes Signal Richtung Berlin senden. Und sie kann sich mit der Nachfrage auseinander setzen. Prostitution muss in die Öffentlichkeit. Es muss die jungen Männer erreichen, dass es Konsequenzen hat, wenn man eine Zwangsprostituierte mal eben benutzt. Eventuell ist das der Kontakt, den sie nicht mehr verkraftet.
Die Stadt plant eine Medienkampagne und will damit auch an Schulen gehen.
Das ist absolut sinnvoll. Die jetzt 18-Jährigen sind damit aufgewachsen, dass Sex ein Konsumartikel ist. Wir müssen sichtbar machen, was Prostitution wirklich ist. Das ist nicht Pretty Woman. Das wirkt sich enorm destruktiv auf die Menschen aus – nicht nur auf die Frauen, die da benutzt werden. Wenn junge Männer ihre ersten sexuellen Erfahrungen mit Pay Sex machen, erwerben sie darüber ganz sicher nicht Kompetenzen, die notwendig sind, um eine Beziehung auf Augenhöhe einzugehen. Wir müssen eine Wertediskussion führen: Was ist Sexualität? Wie soll mit anderen Menschen umgegangen werden? Bei anderen Themen sind wir viel weiter. Es ist unstrittig, dass man sich keine Niere von einem armen Menschen kauft.
Manchmal hilft ein Blick über die Grenze hinaus. In Schweden ist das Freien verboten. Was bringt das?
In der Praxis hat das den Effekt, dass die Frau sehr gestärkt ist. Wenn sie zur Polizei geht, passiert ihr nichts. Der Freier jedoch muss sehr vorsichtig sein. Wenn das bei uns so wäre, hätten viele Freier ein Problem. So manchen würde es zum Nachdenken bringen. In Schweden gibt es relativ wenig verurteilte Freier, trotzdem fällt die Akzeptanz der Prostitution jedes Jahr mehr.
Wie wahrscheinlich ist es, dass bei uns das schwedische Modell eingeführt wird?
Das wird kommen. Der Druck aus Brüssel wird zu groß werden. Auch die Länder um uns herum reglementieren. In Frankreich ist die Freierbestrafung praktisch durch, andere ziehen nach, darunter Holland. Da kann Deutschland nicht weiter ein Eldorado der Prostitution sein.