Kein Drehbuch, keine Anweisungen und Filmmaterial von Laien: Was wie der Albtraum eines Regisseurs klingt, wird bei Sönke Wort zu einem Stimmungsbild. Thema: Ein Tag in Deutschland.

Stuttgart - Am 20. Juni 2015 wurden alle Menschen in Deutschland aufgefordert, ihre Kameras einzuschalten und das gefilmte Material einzuschicken. Nun ist daraus „Deutschland: Dein Selbstporträt“ entstanden. Wie gewagt war dieses Unternehmen?
Der Tag wurde rechtzeitig festgelegt und wir wählten einen Samstag, weil an diesem Tag wahrscheinlich viel mehr Menschen Zeit hätten, als an einem ganz normalen Arbeitstag. Aber im Gegensatz zum Sonntag wird am Samstag trotzdem gearbeitet. Außerdem war der 20. Juni 2015 auch noch der längste Samstag des Jahres. Wir hatten zwar mit mehr Einsendungen gerechnet. Dafür war aber die Qualität sehr viel besser als erwartet, und das hat es mehr als ausgeglichen.
Anfangs waren Sie aber skeptisch. . .
Na ja, 2008 wollte ich im Rahmen der Fußball-Europameisterschaft so ein ähnliches Projekt auf die Beine stellen. Da waren die Einsendungen aber so schwach, das daraus nichts geworden ist. Bei diesem Projekt sagten die Produzenten aber zurecht, dass das nun sieben Jahre her ist und die technische Entwicklung seitdem enorm gewesen ist.
Es gab drei Grundfragen, die von Ihnen jedoch ohne Zwang angeboten wurden. . .
Die drei Fragen lauteten ‚Was macht dich glücklich?’, ‚Wovor hast du Angst?’ und ‚Was bedeutet Deutschland für dich?’ und dienten nur als Einstieg für alle, die Lust hatten mitzumachen. Viele haben das angenommen, viele haben aber auch ganz eigene Ideen umgesetzt. Heute haben viele Leute eine Kamera in ihrem Smartphone und können damit auch umgehen.
Gab es Einsendungen, die Sie überrascht oder auch entsetzt haben?
Wir waren weder erstaunt noch verwundert, denn jeden Tag passieren in Deutschland ganz tolle und ganz furchtbare Sachen, auch im privaten Bereich. Diese ganze Bandbreite haben wir auch bekommen. Es ging um Leben und Tod, um Geburt und Sterben, um Wetter, Sport und Deutschland. Es war also alles drin, und wir dachten uns schon vorher, dass es so sein wird. Das wurde dann langsam zu einem 100 Minuten- Film destilliert, so würde ich das mal nennen.
War es zeitlich überhaupt machbar, dass Sie sich jeden Beitrag ansehen konnten?
Bei 10 000 Einsendungen kann man sich nicht alles selbst ansehen, deswegen waren 16 Leute engagiert, die vorsortiert haben, und zwar danach, was technisch überhaupt gut genug war, um eine Kinoqualität zu haben. Da fiel einiges gleich weg und was übrig blieb, wurde nach Themen wie Freundschaft, Natur, Hochzeit oder Katzen kategorisiert, sodass wir es leichter hatten, uns zurechtzufinden.
Ist der Film nun eine Momentaufnahme des 20. Juni 2015 oder kristallisierten sich schon Themen heraus, die Deutschland erst danach ins Wanken brachten. . .
Das Thema mit den Flüchtlingen ging gerade los, was wir auch anhand der eingereichten Filme merkten. Wahrscheinlich würde jetzt ein Jahr später noch mehr zu diesem speziellen Thema kommen, aber es war trotzdem schon sehr präsent. Syrer filmten sich selbst, es gab Leute, die sich positiv äußerten, aber auch Stimmen, die gegen die Flüchtlingspolitik sind. Das kommt alles in unserem Film vor. Im Film kommen also auch Leute zu Wort, deren Meinung ich überhaupt nicht teile und das muss auch sein, weil das nun mal Realität ist und man nicht eine Seite verschweigen kann.
War es nicht sehr schwierig, bei der Zusammenstellung immer objektiv zu bleiben?
Das fanden wir überhaupt nicht schwierig. Wir waren gespannt und neugierig, was da so kommen würde. Als ich die Leute so erzählen hörte, war es mir schon möglich, meine eigene Meinung hinten an zu stellen. Wir zeigen im Film einfach, wie verschiedenartig Menschen in Deutschland leben – ohne es zu bewerten. Das war auch gar nicht anders möglich, weil ich als Regisseur nicht eingreifen konnte. Sonst hätten wir einen Dokumentarfilm drehen müssen, für den ich monatelang durchs Land gereist wäre. Der Auftrag war, das Bild eines bestimmten Tages einzufangen.
Glauben Sie, dass „Deutschland: Dein Selbstporträt“ dennoch das momentane Stimmungsbild in unserem Land wiedergibt?
Absolut. Deutschland ist im Vergleich zur Welt ja kein anderes Land geworden. Es war zwar eine Momentaufnahme vom letzten Jahr, die aber heute fast noch genauso gilt. Ich fände es aber spannend und plädiere auch dafür, das Ganze in fünf Jahren noch Mal zu machen, und in zehn Jahren nochmals. Wenn alle fünf Jahre ein Film wie „Deutschland: Dein Selbstporträt“ entstehen würde, käme man der Befindlichkeit eines Landes auf die Spur.
Wie sind Sie vorgegangen, um die Beiträge mit einer gewissen Dramaturgie zu verbinden?
Uns ist es relativ schnell gelungen, sowohl eine Szene zu finden, mit der man anfangen als auch eine, mit der man aufhören könnte. Das war schon mal viel wert und dazwischen haben wir uns an den Tagesablauf gehalten. Der Film fängt frühmorgens an, wenn es noch dunkel ist und die ersten zur Arbeit gehen und hört damit auf wenn Leute wieder ins Bett gehen. Wir haben uns aber nicht sklavisch an die Zeitdramaturgie gehalten, sondern innerhalb des Tages haben sich Themen herauskristallisiert, die wir herausarbeiten, teilweise durch Erzählungen, teilweise mit Collagen.