Bis Mitte des kommenden Jahres wird Stuttgart mehr als 3000 Flüchtlinge aufnehmen. Die Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) rechnet damit, dass der Stadt danach weitere Asylsuchende zugewiesen werden.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart – - In diesem Sommer sind knapp 900 Flüchtlinge in Stuttgart angekommen, die unerlaubt in die Bundesrepublik eingereist waren. Das heißt: sie stellten nicht im ersten sicheren Land, das sie erreichten, einen Asylantrag, sondern schlugen sich bis Deutschland durch. Stuttgarts Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP) spricht darüber, wie man diesem Zustrom begegnen kann. Sie rechnet für die kommenden Jahre damit, dass Stuttgart mehr Flüchtlinge aufnehmen muss.

 
Frau Fezer, wir haben einen großen Zustrom von irregulär eingereisten Flüchtlingen erlebt, knapp 900 kamen nach Stuttgart. Ist das eine dauerhafte Bewegung, auf die wir uns einstellen müssen?
Nicht unbedingt. Das kann aber niemand genau kalkulieren. Denn die Pfade, die die unerlaubt Einreisenden gehen, ändern sich immer wieder und werden den Flüchtlingen von Schleuserbanden mit detaillierten Informationen vorgegeben. Die Ziele der Flüchtlinge sind ja meistens nicht Stuttgart oder München, viele wollen nach Skandinavien, wegen familiärer Bindungen. Der Weg führte nun ein paar Tage lang über München und Stuttgart. Das kann aber auch wieder abbrechen. Deswegen gehen wir – auch aufgrund der Hinweise der Polizei – davon aus, dass das nicht so bleiben muss.
Die aktuelle Welle hat zu einer Art Schwarze-Peter-Spiel geführt: Manche sagen, die Münchner hätten anders reagieren müssen, in München schiebt man die Schuld auf Italien und sagt, dort hätten die Flüchtlinge aufgenommen werden müssen.
Diese Diskussion interessiert mich als Stuttgarter Sozialbürgermeisterin überhaupt nicht. Denn wir müssen hier mit den Flüchtlingen – seien sie nun regulär oder unerlaubt gekommen – umgehen. Wir sind verantwortlich, dass hier angemessene humanitäre Verhältnisse herrschen. Das können wir alles sehr gut handhaben. Wir haben uns in der aktuellen Lage schnell und gut darauf eingerichtet.
Kann es sein, dass auch mal die Grenze des humanitär Vertretbaren erreicht wird, wenn etwa plötzlich 500 Personen ankommen?
Ich spekuliere jetzt nicht mit 500 Flüchtlingen. Aber wenn es deutlich mehr werden würden, dann müssten wir andere Räume finden als die alte Post im Bahnhof. Es geht nicht um die Bereitstellung von Notunterkünften wie für Obdachlose. Flüchtlinge sind nur für wenige Stunden da, dann gehen sie nach Karlsruhe zur Aufnahmestelle weiter. Die Situation ist nicht so wahrscheinlich, dass wir uns jetzt darauf vorbereiten müssen. Wenn es doch kommen sollte, sind ruck, zuck alle maßgeblichen Leute um einen Tisch und stimmen sich ab.
Die Erstaufnahmestelle in Karlsruhe ist am Ende ihrer Kapazität. Muss man nach Meßstetten eine weitere einrichten, vielleicht in der Landeshauptstadt?
Ich sehe uns da derzeit nicht in der Verantwortung. Erstaufnahmestellen sind größere Einrichtungen auf großem Gelände, die Ansiedlung ist Landessache. Es ist schon ein großer Aufwand, unsere regulären Flüchtlinge unterzubringen. Das liegt auch an Stuttgarts Topografie. Eine Erstaufnahmestelle kann überall eingerichtet werden. Da gibt es weitaus bessere Orte im Land, wo leer stehende große Gebäude wie zum Beispiel Kasernen verfügbar sind. Insofern spielt das Charakteristikum Landeshauptstadt keine Rolle.
Wie sieht es mit der Kostenverteilung aus?
Da gibt es verschiedene Zuständigkeiten, und dementsprechend verteilen sich auch die Kosten. Die Bundespolizei greift die Flüchtlinge auf und befragt sie und behandelt sie erkennungsdienstlich – zunächst, bis zum Asylantrag, sind die Menschen ja unerlaubt Einreisende. Das sind Maßnahmen der Bundespolizei, also ist sie zuständig. Sie muss bis zu einem gewissen Grad Verpflegung, Ruhe- und Sitzmöglichkeiten bereitstellen und bezahlen – das Geld für die Zeit im Gewahrsam kommt vom Bund. Die Polizei kann allerdings nicht Brote schmieren oder Lunchpakete packen, diese Ressourcen hat sie nicht. Deswegen sucht sie gemeinsam mit der Sozialverwaltung und den örtlichen Hilfsorganisationen nach Möglichkeiten, diese Aufgabe zu bewältigen. Die Sozialverwaltung hat Hilfe angeboten. Ob die Bundespolizei das Angebot aufgreift oder einen anderen Weg geht, wird sich zeigen. Von der Polizei kommen die Flüchtlinge zur Anlaufstelle Bahnhofsmission, etwa wenn abends kein Zug mehr nach Karlsruhe fährt oder sich aus anderen Gründen Verzögerungen ergeben. Dann sind die Flüchtlinge Menschen in Not „auf Stuttgarter Boden“, und wir unterstützen die Bahnhofsmission dabei, sie zu versorgen. Dazu hat das Sozialamt zusammen mit dem Eigenbetrieb Leben und Wohnen mit seinem Küchencenter organisiert, dass von dort zunächst einmal 100 Lunchpakete mit Brot, Käse und Getränken angeliefert wurden und von der Bahnhofsmission ausgegeben werden können. Es geht aber auch um die Beratung der Flüchtlinge, die jetzt keinen Asylantrag stellen wollen. Hier wollen wir versuchen, durch erfahrene Sozialarbeiter Hilfestellung zu geben.
Später werden die Flüchtlinge ihren Aufenthaltsorten zugewiesen. Gibt es Erkenntnisse, ob die Zahlen für Stuttgart steigen?
Nein, noch keine aktualisierten. Wir richten uns danach, was uns das Regierungspräsidium prognostiziert. Stuttgart wird entsprechend der bestehenden Aufnahmequote natürlich bei insgesamt steigenden Flüchtlingszahlen auch mehr aufzunehmen haben. Man darf jetzt nicht den Fehler machen, dass man von den irregulären Flüchtlingen, die zurzeit ankommen, hochrechnet. Die Zahlen derer, die bei uns untergebracht werden, springen jetzt nicht in die Höhe. Das hat auch damit zu tun, dass wir eine hohe Fluktuation haben.
Wie kommt es dazu?
Wir haben zum Beispiel unsere Rückkehrberatung intensiviert, etwa bei den Asylsuchenden aus Osteuropa. Da ist es bei vielen recht klar, dass ein Asylverfahren nicht erfolgreich sein wird. Unsere Fachleute reden mit den Menschen und helfen, dass eine Rückkehr gut verlaufen wird. Wir haben pro Monat rund 40 Personen, die wieder in ihre Heimat zurückkehren. Das wird bei den Syrern sicherlich nicht so sein. Derzeit können wir bis Mitte 2015 alle zugewiesenen Flüchtlinge unterbringen.
Von wie vielen gehen Sie aus?
Bis Ende Juni 2015 wird das Sozialamt 3050 Personen in der Stadt unterbringen. Aktuell leben bereits mehr als 2100 Flüchtlinge in der Stadt. Heute eröffnen wir eine weitere Unterkunft in der Zazenhäuser Straße. Im Durchschnitt bleiben die Menschen etwas länger als drei Jahre bei uns.
Und wie wird es sich weiterentwickeln?
Darüber etwas zu sagen wäre reine Spekulation. Aber man muss sich sicher darauf einstellen, dass weitere Flüchtlinge kommen werden, das ist aber nur meine Einschätzung als Zeitungsleserin und Fernsehzuschauerin. Dann müssen wir neue Standorte suchen.
Gibt es schon neue Standorte in Aussicht?
Nein, wir haben keinen Plan B. Sicherlich werden wir uns Ende des Jahres umschauen, spätestens wenn wir neue Zahlen vom Regierungspräsidium bekommen.
Apropos Standort: Wie reagieren die Stuttgarter auf die Neuankömmlinge?
Es ist phänomenal. Es ist für mich geradezu beglückend, mit welcher Herzlichkeit, Offenheit und Bereitschaft die Bürger die Menschen hier willkommen heißen. Wenn ich sehe, wie schnell ein Flüchtlingsfreundeskreis zustande kommt, wie schnell sich Ehrenamtliche finden, die sich engagieren: das ist unglaublich, wirklich hinreißend.
Kommen wir abschließend zur Wunschliste, der Flüchtlingsgipfel soll noch im Herbst stattfinden. Was werden Sie fordern?
Auf jeden Fall eine Erhöhung der Ausgabenpauschale, die in Stuttgart aufgrund hoher Raumkosten nicht kostendeckend ist. Das ist auch wichtig, da im Jahr 2016 die Wohnfläche pro Person von 4,5 auf sieben Quadratmeter erhöht wird. Mit dieser Forderung steht Stuttgart nicht allein, wir sind hier in enger Abstimmung mit dem Städte- und dem Landkreistag. Dann gibt es noch etwas, wofür wir nicht direkt zuständig sind, was ich mir aber in meiner Gesamtverantwortung als Sozialbürgermeisterin anschaue: Die Zustände in den Erstaufnahmestellen sind nicht gut. Da muss dringend etwas geschehen. Das Land hat auch seine Probleme, dem Ansturm gerecht zu werden, aber das muss einfach funktionieren.

Flüchtlingsheime mit mehr als 20 Plätzen im Raum Stuttgart: