Seit über einem Jahr ist der Stuttgarter Florian Harms Chefredakteur von Spiegel Online. Im Interview spricht er über sein Verhältnis zu Wolfgang Büchner, über den vom SWR geleakten internen Spiegel-Innovationsreport und über das Magazin als Kontaktlinse.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Florian Harms will sich nicht lange damit aufhalten, dass der Innovationsreport aus dem Hause Spiegel an die Öffentlichkeit geraten ist. Stattdessen wirbt er für den Umbau, den er gemeinsam mit Klaus Brinkbäumer beim Spiegel vorantreibt.

 
Herr Harms, redet Wolfgang Büchner, der Spiegel-Kurzzeit-Chef, eigentlich noch mit Ihnen?
Selbstverständlich. Ich kenne und schätze Wolfgang seit zwölf Jahren. Er hat mich bei Spon jahrelang gefördert, wir haben bis heute ein sehr gutes Verhältnis.
Woran ist er letztlich beim Spiegel gescheitert?
Es war eine schwierige Zeit in unserem Haus. Die Digitalisierung verändert die Mediennutzung grundlegend, deshalb müssen auch wir Journalisten bereit sein, unsere Arbeit grundlegend weiterzuentwickeln. Disruptive Prozesse verlaufen aber meistens nicht linear und planbar, sondern sprunghaft und stürmisch. Das war in unserem Hause nicht anders. In meinem Verständnis gehört es zur Spiegel-Kultur, Veränderungsprozesse partizipativ anzulegen. Als Chefredaktion ist es uns damals leider nicht gelungen, alle Kollegen im Haus mitzunehmen.
Ist der Spiegel also unregierbar?
Unsinn. Es war aus der Situation heraus einfach enorm schwierig und ist dann leider eskaliert.
Musste Büchner scheitern, damit Sie heute einen radikalen Umbau vorantreiben können?
Es wäre natürlich viel besser gewesen, wenn wir das damals gemeinsam hinbekommen hätten. Wir alle haben aber unsere Lehren aus diesem Konflikt gezogen. So wie das Haus damals nach außen erschien, darf es nie wieder nach außen erscheinen.
Jetzt steht Ihr Haus nach den „Spiegel Leaks“ des SWR aber schon wieder mehr im Fokus, als Ihnen lieb sein kann. Ihr Kolumnist Sascha Lobo hat geschrieben, dass Leaks der neue Pop sind. Wie fühlt es sich an, selbst Gegenstand der popkulturellen Betrachtung zu sein?
Sehr pop. (lacht) Wir wollen aus dem Spiegel ein multimediales und modernes Unternehmen machen, und dazu gehört, dass wir Schwächen erkennen, diskutieren und beheben. Dafür brauchen wir die gesamte Kreativität des Hauses, die gesamte Fachkenntnis und vor allem die geballte Motivation aller Kollegen. Deshalb haben wir den Veränderungsprozess stark partizipativ angelegt.
Was heißt das konkret?
Wir führen, indem wir transparent kommunizieren und möglichst viele Kollegen in Veränderungsprojekte einbinden. Ein Beispiel: Vor einem Jahr haben wir 15 Teams zusammengestellt, die wir interdisziplinär besetzt haben, mit Kollegen aus den drei Redaktionen von Spiegel, Spon und Spiegel TV sowie den Verlagsabteilungen, beispielsweise Vermarktung, Vertrieb, IT, Marketing. So einen Prozess gab es zum ersten Mal in unserem Haus, und er hat neue Kräfte freigesetzt. Die Chefredaktionen und die Geschäftsführung haben die Themen vorgegeben und den Prozess begleitet, dazu gab es Unterstützung durch das Projektmanagement. Eines der Teams hatte den Auftrag, einen Innovationsreport zu schreiben, und die Kollegen haben exzellente Arbeit geleistet. Sie haben die Prozesse in unserem Haus schonungslos, aber mit großer Empathie durchleuchtet und kritisch hinterfragt, ob wir richtig aufgestellt sind, um die Antworten auf den Medienwandel zu geben.
Und wie lautet das Ergebnis?
Das wollen wir nun gemeinsam mit möglichst vielen Kolleginnen und Kollegen diskutieren – aber intern.
Das klingt aber alles eher unkonkret.
Es ist sehr konkret. Das zeigt sich zum Beispiel in der redaktionellen Zusammenarbeit. Es funktioniert eben nicht mehr, dass Spiegel, Spon und Spiegel TV parallel arbeiten, wir müssen uns eng verzahnen. Dafür haben wir einen strukturierten Prozess initiiert, in dem die Ressorts aus den drei Redaktionen, ausgehend von einem klaren Arbeitsauftrag und begleitet von einem Coach, Konzepte für ihre Zusammenarbeit entwickeln. Wir wollen unsere Publizistik systematisch auf allen Plattformen orchestrieren. Das bedeutet nicht, dass alle Redakteure alles machen sollen, sondern dass jeder das tut, was er am besten kann – aber eben auf allen Kanälen. Und dass alle sich für den Erfolg aller unserer Produkte verantwortlich fühlen.
Bisher haben Sie nur von inneren Reformen gesprochen, wie sieht es mit neuen Produkten aus?
Auch da kommt einiges. Ein Bezahlangebot auf Spiegel Online und das tägliche Angebot Spiegeldaily haben wir bereits angekündigt, daran arbeiten wir. Große Freude macht uns unser neues Portal Bento, das sich vor allem an junge Nutzer richtet...
… für das Sie aber auch ordentlich Prügel kassiert haben.
Die Kritik in manchen Mediendiensten, auf die Sie anspielen, fand ich seltsam. Kleinlich und irgendwie auch sehr deutsch: Jemand probiert etwas Neues, ist bereit, etwas zu wagen, und wenn nicht sofort alles hundertprozentig funktioniert, haut man drauf. In Amerika wäre das undenkbar, dort ist Kritik meist konstruktiver. Wir hatten gar nicht den Anspruch, dass Bento zum Launch schon fertig sein sollte. Wir haben es von Anfang an als iteratives Projekt geplant, das wir schrittweise weiterentwickeln. Und es freut mich sehr, dass das nun so gut funktioniert. Das Bento-Team macht großartige Arbeit, die Themen sind spannend – sogar für mich, der ich mit 42 Jahren ja nun schon ein alter Sack bin.
Weg von Bento, hin zur Gesamtlage für den Spiegel: Seit dem Jahr 2000 haben sie beim Magazin 70 Prozent Anzeigenvolumen verloren, in den vergangenen Jahren ist Ihnen die Auflage um 17 Prozent eingebrochen. Wird es einem da nicht Angst und Bange?
Das ist die Folge einer dramatischen Strukturveränderung unserer Branche.
Und wie stoppt man die Zahlen?
Was Print angeht, lassen sich die Zahlen nur begrenzt beeinflussen. Klaus Brinkbäumer macht mit den Spiegel-Kollegen Woche für Woche ein exzellentes Blatt. Die Entwicklung der Auflagenzahlen spiegelt nicht die Qualität des Heftes wider, sondern das veränderte Mediennutzungsverhalten. Im Vergleich zu anderen Häusern stehen wir sehr gut da.
Das kann aber nicht Ihr alleiniger Anspruch sein.
Unsere Aufgabe ist es erstens, erstklassigen, aufklärerischen Journalismus zu machen. Und zweitens, möglichst viele Leser und Nutzer mit unseren journalistischen Angeboten zu erreichen. Dafür müssen wir diese noch viel stärker als bisher digital aufbereiten, choreografieren und inszenieren. Zum Beispiel durch die Präsentation der Magazin-Inhalte auf der Website und in den Apps.
Tappt man da aber nicht wieder in die Falle hinein, dass man das eigene Heft kannibalisiert?
Wir wollen behutsam vorgehen und beobachten die Entwicklung der Leser- und Nutzerzahlen sehr genau. Aber es hilft ja nichts: Wir müssen mit unserer Publizistik dahin, wo die Menschen sind; und immer mehr Menschen informieren sich eben überwiegend oder ausschließlich im Internet. Dort wollen wir mit Anzeigenvermarktung und einem schrittweise entwickelten Bezahlangebot die Erlöse steigern. Derzeit gibt es eine Überschneidung der Spon-Nutzer und Spiegel-Leser von ungefähr einem Viertel. Wir haben also ein riesiges Potenzial an Lesern, die den Spiegel im Web noch nicht oder kaum wahrnehmen.
Also läuft es auf eine Art Spiegel plus hinaus?
An dem Bezahlmodell arbeiten wir gerade intensiv, deshalb möchte ich dazu im Moment nichts Genaueres verraten. Nur so viel: Es wird kommen, und wir werden es beharrlich und sukzessive weiterentwickeln.
Wie haben Sie Spiegel Online denn bisher weiterentwickelt?
Indem wir drei inhaltliche Bereiche verstärkt und weiterentwickelt haben: die Präzision bei Nachrichten, den „Erklär-Journalismus“ und den Meinungsbereich, also Kommentare, Kolumnen und Gastbeiträge. Bei News ist es uns wichtiger, dass die Informationen wirklich stimmen, als dass wir sie möglichst schnell veröffentlichen. Der alte, aber in Wahrheit zeitlose journalistische Leitsatz „Be first, but first be right“, ist uns heilig. Es passiert uns seltener als Mitbewerbern, dass wir Informationen veröffentlichen, die sich später als falsch oder teilweise falsch herausstellen. Weil wir sie wirklich überprüfen und auch das Zwei-Quellen-Prinzip einhalten. Nehmen Sie beispielsweise Todesfälle oder Unglücke: Solche Nachrichten kommen häufig zunächst nur aus einer Quelle. Selbstverständlich braucht es da eine zweite.
Wenn Sie das Qualitätsmanagement so sehr betonen müssen, muss es davor ja wirklich schlimm um Spon bestellt gewesen sein.
Nein, wir hatten bei Spon immer schon einen hohen Anspruch an unsere Arbeit. Mir war und ist es aber wichtig, diesen Anspruch in einer Zeit, in der es andernorts in der Branche fast nur noch um Tempo und um Klicks geht, hochzuhalten und weiter zu steigern.
Wo muss Spon dann noch besser werden?
Das Layout und die Usability von Spon sind tatsächlich schon seit langem nicht mehr gut genug. Da wäre ich gern schon viel weiter; die Ideen sind längst ausgearbeitet. Die Umsetzung ist allerdings auf einer so mächtigen, Traffic-starken Site wirklich knifflig und benötigt viel IT-Kapazität. Mit der Spiegel Tech Lab haben wir seit kurzem ein Tochterunternehmen für die IT-Entwicklung unserer Produkte, das wird uns voranbringen.
Stichwort Facebook: wie läuft Ihr Versuch mit den Instant Articles?
Gut, wir haben auch dieses Projekt iterativ angelegt und machen interessante Erfahrungen. Viele Menschen suchen Informationen eben nicht mehr nur auf Newssites, sondern vor allem auf Facebook – also sollten wir als Anbieter von hochwertigem Journalismus dort sein. Im Fokus steht die Zufriedenheit unserer Nutzer: Die Artikel werden mobil schnell geladen und modern dargestellt. Die Hoheit über die Inhalte haben natürlich weiterhin wir.
Hat man am Ende aber nicht viel zu wenig Einfluss auf Facebook als Kiosk?
Wir wissen natürlich, dass wir mit einem riesigen Konzern zusammenarbeiten, der eigene Interessen verfolgt. Wir sehen Instant Articles erst einmal als ein Experiment. Wir profitieren davon, wir evaluieren es, und wir lernen daraus.
Kürzlich waren Sie auf der Tech-Messe South by Southwest in Texas. Was haben Sie von der SXSW mitgebracht?
Das bestimmende Thema in diesem Jahr war Virtual Reality, deren enormes Potenzial wurde sehr deutlich, gerade für Medienhäuser: Wie können wir unsere publizistischen Inhalte noch attraktiver aufbereiten? Im Moment hat man als Nutzer noch klobige Papp- oder Plastikbrillen auf, irgendwann werden es wahrscheinlich Kontaktlinsen sein.
Der Spiegel als Kontaktlinse. Klingt interessant. Was haben Sie noch beobachtet?
Es war faszinierend zu sehen, wie sich die amerikanischen Startup-Medien, zum Beispiel Buzzfeed und Vox.com, zu Verlagshäusern wandeln. Sie diversifizieren ihre Inhalte und ziehen ihre Vermarktung dann plattformübergreifend auf. Das tun sie in einer Entschiedenheit und in einem Tempo, das wirklich atemberaubend ist. Angesichts solcher Konkurrenten können wir traditionellen Medienhäuser nur bestehen, wenn wir bereit sind, uns konsequent auf die veränderten Gewohnheiten und Ansprüche unserer Nutzer einzustellen, permanent offen für Neues zu sein, unsere Strukturen und Arbeitsprozesse systematisch umzubauen. Schlagkräftig sind wir nur dann, wenn alle Bereiche eines Haues zusammenstehen und eng zusammenarbeiten – Redaktion, IT, Vermarktung, Vertrieb, Marketing und so weiter.
Das klingt nach einem langen, schmerzhaften Prozess. Gab es im Kontrast dazu noch eine schnelle technische Neuerung, die Sie begeistert hat?
Ja, wie weit die künstliche Intelligenz mittlerweile fortgeschritten ist. Stichwort Roboter und Spracherkennung. Das ist faszinierend.
Klingt, als hätten Sie direkt einen Schwung Roboter eingekauft, die künftig für Spiegel Online schreiben.
Natürlich nicht. Ich finde diese Debatte aber tatsächlich interessant. Wenn es uns hilft, dass ein Roboter Börsenberichte schreibt, und zwar nicht zwei, drei oder vier, sondern 10 000 pro Tag, angepasst an die Bedürfnisse eines jeweiligen Nutzers, warum denn nicht? Etwas anderes ist es natürlich, wenn ich die Kompetenz von Journalisten brauche, um Ereignisse zu bewerten und einzuordnen. Das kann keine Maschine.