Lokales: Mathias Bury (ury)

Ähnliches gilt wohl für die Arbeitswelt.
Dort wird mehr geistige Arbeit gefordert als früher, mehr Schnelligkeit, mehr Wendigkeit. Wir sind psychisch – man kann auch sagen „nervlich“ – viel mehr herausgefordert, gerade im Dienstleistungsbereich im Umgang mit anderen Menschen. Es haben auch monotone geistige Tätigkeiten zugenommen. Ein Beispiel: In Callcentern der France Télécom hatte man ein Riesenproblem wegen einer hohen Suizidrate. Dort haben die Mitarbeiter es mit einem Gegenüber zu tun, das ein Problem hat, eine schnelle Lösung fordert und genervt ist, der Mitarbeiter soll freundlich sein, und das alles ist auch noch sehr anonym.

Sind die Zuwächse bei den psychischen Erkrankungen auch ein Preis für mehr Freiheit, Individualismus und Mobilität?
Nein. Depressionen zum Beispiel sind so alt wie die Menschheit, sie werden schon bei den alten Griechen beschrieben. Depression ist etwas Urmenschliches, nichts Modernes. So wie es immer schon Suizid gab. Wir reden heute nur mehr darüber und anerkennen das Leiden der Betroffenen und bieten ihnen Hilfe an. Depressionen waren auch früher gar nicht so selten. Menschen, die eine sehr schwere Form hatten, wurden oft weggesperrt.

Aber psychische Krankheiten sind doch auch ein Ausdruck der Zeit, in der sie auftreten.
Sie sind auch ein Spiegel der Gesellschaft, sicher. In unserer Zeit ist die psychische Verunsicherung groß. Man muss heute seine Rolle selbst suchen und definieren. Der Druck allgemein hat zugenommen, bei der Arbeit und in der Freizeit. In der Erziehung sollen die Kinder schon früh alles mögliche lernen und sie sollen überall gut sein. Dabei brauchen Kinder auch Unterstützung, nicht überall mitzumachen und vorne dabei sein zu wollen. Man muss sich auch trauen, nicht mitzumachen.

Was ist ihr allgemeiner Rat, dass man nicht in eine Spirale gerät, an deren Ende eine psychische Erkrankung steht?
Wir müssen auch mal deutlich machen, wo unsere Grenzen sind, ohne dass wir gleich meinen, wir seien Versager. Das lernen wir zu wenig. Es ist eine Herausforderung, seine Grenzen anzuerkennen, kein Versagen. Aber das bedeutet dann eben auch Verzicht, zum Beispiel auf Anerkennung oder auf Karriere. Das muss man aushalten können.

Nimmt die Problemlösungskompetenz ab?
Wir haben in vielen Bereichen noch keine Kompetenz für unsere veränderten Lebensbedingungen. In der Arbeitswelt ist das offensichtlich. Angesichts der psychischen Belastungen müsste sich der Führungsstil ändern. Die Führungskräfte müssen mehr Verantwortung für das Wohl ihrer Mitarbeiter übernehmen.

Was muss sich in der Arbeitswelt ändern?
Die Unternehmen müssen stärker in der Prävention tätig werden. Sie müssen die Vorgesetzten schulen, dass sie psychische Probleme ihrer Mitarbeiter wahrnehmen. Die Lage ist nicht viel anders als Ende der 50er Jahre beim Umgang mit Rückenproblem. Da hat man Stühle und Maschinen entwickelt, die die Beschäftigten entlastet haben. Wenn jemand Rückenprobleme hat, sagt man ihm auch, er soll zum Arzt gehen. Ich habe den Eindruck, dass das auch die Krankenkassen so sehen. Die schlagen Alarm, weil die finanziellen Belastungen durch psychische Erkrankungen wegen der langen Ausfallzeiten und auch die Frühverrentungen mit dieser Ursache stark zugenommen haben.

Kritiker sagen, es gebe dort die meisten psychischen Krankheiten, wo es auch die meisten Psychotherapeuten gibt.
Das widerlegen die Zahlen. Die Aufklärung über psychische Erkrankungen ist viel besser geworden. Vor 20 Jahren wäre niemand auf die Idee gekommen, im Fernsehen eine Essstörung darzustellen. Die Patienten kommen zu uns, ohne dass wir werben. Wir haben seit 20, 30 Jahren eine größere Nachfrage, als wir sie behandeln können. Zu uns kommen zumeist Menschen, die schon vier bis fünf Jahre leiden.

Gibt es immer noch Engpässe bei der Versorgung der Menschen mit Psychotherapie?
Ja. Es gibt vor allem im ländlichen Bereich zu wenig Psychotherapeuten, dort sind die Wartezeiten oft sehr lang, auch in Baden-Württemberg. Das hat man erkannt, nach der Bedarfsplanung soll es im ländlichen Raum mehr Psychotherapeuten geben.

Nun gibt es in den USA Bestrebungen, selbst Trauer schon nach wenigen Wochen zur Depression zu erklären. Das wird die Nachfrage jedenfalls noch weiter erhöhen.
Die Befürchtung, dass die neue diagnostische Einordnung zu mehr Fällen psychischer Erkrankung führt, ist berechtigt. Das sehe ich sehr kritisch. Stattdessen müsste man dafür werben, dass Menschen die Zeit bekommen zu trauern, auch in der Arbeitswelt. Früher gab es Witwenkleidung, man sprach vom Trauerjahr. Jetzt soll dieser Zustand schnell überwunden werden, gegebenenfalls mit Hilfe einer stimmungsstabilisierenden Pille. Wir müssen aber wieder lernen, mit Leiden, mit Trauer und mit Schmerz umzugehen.