Die Menschen müssen lernen, ihre Grenzen anzuerkennen, sagt der Stuttgarter Psychotherapeut Dietrich Munz. Firmen sollen stärker auf das Wohl ihrer Mitarbeiter achten.

Lokales: Mathias Bury (ury)
Stuttgart –Seit einigen Jahren steigt die Zahl der psychischen Erkrankungen. Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg betrug die Zunahme der psychotherapeutischer Behandlungen alleine zwischen 2009 und 2011 knapp 7,6 Prozent. Dietrich Munz, der Präsident der Psychotherapeutenkammer im Land, führt dies vor allem auf Verbesserungen in der Aufklärung der Betroffenen und in der Diagnostik der Hausärzte zurück.
Herr Munz, die Zahl der psychischen Erkrankungen nimmt seit Jahren zu. Was hat sich da verändert in unserer Gesellschaft?
Diese Lesart stimmt wissenschaftlich nicht ganz. Nicht die Erkrankungen nehmen zu, sondern dass psychisch kranke Menschen sich mehr an Ärzte und Psychotherapeuten wenden. Sie nehmen mehr war, dass sie krank sind und Hilfe brauchen. Es gibt seit 25 bis 30 Jahren gute Untersuchungen über die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen in der Bevölkerung, die zeigen, dass deren Häufigkeit etwa gleich geblieben ist, europaweit. Vor allem in Deutschland steigt die Inanspruchnahme von Hilfe. Und die Folgen der Erkrankungen werden stärker.

Was sind die hauptsächlichen Leiden?
Die Hauptdiagnosen sind Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und eine sehr große Zahl von Anpassungsstörungen. Letzteres klingt harmlos, ist es aber nicht. Diese Diagnose wird oft gestellt, weil sie eine der wenigen ist, bei denen auch eine Ursache benannt wird: zum Beispiel eine schwere Belastung im Leben, eine Krisensituation. Das kann ein Todesfall sein, eine Scheidung, Veränderungen bei der Arbeit, aber genauso ein Karriereaufstieg, der zu einer Überforderung führt. Die Menschen leiden oft sehr heftig. Meist ist eine Anpassungsstörung mit einer depressiven oder einer Angststörung kombiniert.

Nehmen diese Anpassungsstörungen wegen der raschen Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu?
Dazu gibt es keine spezifischen Untersuchungen, das kann aber sein. Entscheidend ist jedoch, dass Hausärzte und Fachärzte heute viel häufiger und genauer nachfragen, ob jemand eine Belastungssituation erlebt, die auch die körperlichen Symptome, deretwegen der Patient zu ihnen kommt, verstärken könnten. Es wird also häufiger geklärt, ob eine psychische Erkrankung oder eine starke psychische Belastung vorliegt. Das war früher selbst bei psychosomatische Erkrankungen wie unerklärbaren Schmerzen oder Schlafstörungen nicht der Fall, da gab es dann ein Medikament. Die Ärzte sind heute besser in der Diagnostik von psychischen Erkrankungen ausgebildet. In den 80er Jahren haben Hausärzte bei zehn Prozent ihrer Patienten psychische Erkrankungen festgestellt, diese Zahl hat sich auf fast 20 Prozent erhöht. Wir nähern uns der Realität. Wir gehen davon aus, dass 25 bis 35 Prozent der Menschen psychisch krank sind.

Mit einem Schwergewicht auf Depressionen und Angsterkrankungen?
Depressive Erkrankungen und Angststörungen machen bei Psychotherapeuten 50 bis 60 Prozent der Diagnosen aus, dazu kommen psychosomatische Erkrankungen. Die Symptome bei generalisierter Angst, wie wir das nennen, sind eine große Ängstlichkeit vor Veränderungen, vor Anpassungen, vor Schwierigkeiten, vor sozialen Kontakten, aber auch Angst-Attacken. Wobei in den genannten Zahlen die psychiatrischen Fälle und die Suchterkrankungen noch gar nicht enthalten sind. Bei den Diagnosen der Psychiater ist der Anteil der Depressionen ebenfalls sehr hoch, dort werden auch viele Patienten mit psychotischen Erkrankungen behandelt.

Wer ist von Depressionen betroffen?
Frauen sind mehr betroffen als Männer. In der gesamten Bevölkerung sind zwölf Prozent der Frauen und fünf Prozent der Männern depressiv erkrankt. Bei Männern ist die Dunkelziffer aber hoch. Wenn sie eine Depression entwickeln, nehmen sie diese oft nicht wahr. Sie haben viele Strategien, um diese zu verleugnen. Sie werden oft sehr aktiv, machen viel Sport, stürzen sich in die Arbeit, und es dauert oft Jahre, bis die Lage kippt und es zu einer Depression kommt. Ein Hinweis, dass psychische Erkrankungen wie Depression bei Männern zu wenig erkannt werden, ist die Suizidrate: die ist bei Männern dreimal höher als bei Frauen.

Welche Rolle spielt Burnout? Es gibt Psychologen, die sagen, das sei oft nur ein Tarnwort für Depression, weil Burnout gesellschaftlich besser akzeptiert sei.
Burnout ist ein typisches Beispiel, wie psychische Probleme einen Namen finden und eine Person, die psychisch belastet ist, sich traut, das zu sagen: meine Arbeit ist so belastend, dass ich psychische Probleme kriege. Dabei ist es keine Diagnose, sondern ein Arbeitsproblem, das, wenn es länger anhält, zu einer Erkrankung führen kann, die dann so benannt wird. Das klingt akzeptabler als Depression oder Angststörung.

Wie sieht die Altersverteilung bei den Diagnosen von psychischen Erkrankungen aus?
Vor allem bei jungen Menschen zwischen 16 und 30 Jahren haben psychische Erkrankungen zugenommen, insbesondere depressive und Angsterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen wie die sogenannte Borderline-Störung. Bei dieser haben die Betroffenen große Schwierigkeiten, ihre Affekt zu kontrollieren. Sie leiden unter extremen Stimmungsschwankungen und haben dann Affektdurchbrüche bis hin zu Selbstverletzungen aus aggressiven Impulsen heraus, oder sie zertrümmern Dinge. Bei jüngeren Menschen liegen die Zuwächse bei zehn bis 20 Prozent.

Wo liegen die Ursachen?
Es gibt keine monokausalen Ursachen. Klar ist: durch die gesellschaftlichen Veränderungen nehmen die psychischen Belastungen zu. Die Orientierung für junge Menschen – was ist in, was ist out, was meint die Peergroup – ist deutlich schwieriger als früher. Die Belastung bei Entscheidungen, die Kehrseite unserer oft grenzenlosen Freiheit, ist groß. Manche Kollegen sprechen heute von einer narzisstischen Gesellschaft. Es kommt doch sehr auf Äußerlichkeiten an, dass man etwas darstellt, der Druck auf die jungen Leute ist groß. Bei den Essstörungen gibt es dafür ein gutes Beispiel: Zur Zeit von Marilyn Monroe entsprachen 40 Prozent der Frauen diesem Körperbild, heute sind es unter 20 Prozent, die den immer dünner werdenden Models entsprechen. Das Ideal zu erfüllen, wird also immer schwieriger.