Der Stuttgarter OB Wolfgang Schuster will nach der Stresstestdebatte auf die Kritiker des Tiefbahnhofs und der Neubaustrecke zugehen.

Stuttgart - In keiner anderen Phase seiner bisherigen Amtszeit als Oberbürgermeister ist Wolfgang Schuster so sehr von den Ereignissen getrieben worden wie in der Zeit seit dem Sommer 2010. Vor der Diskussion über die Ergebnisse des Stresstests spricht Schuster im StZ-Interview über Kritik an der Bahn und darüber, dass er im Herbst ein Dialogforum gründen will. Gesprächsbedarf gibt es auch in seiner Partei: In der CDU gärt es, Schuster bezieht Position.

 

Herr Schuster, die Bahn ist mal wieder unpünktlich. Die Diskussion über die Ergebnisse des Stresstests musste verschoben werden, weil sie den Gegnern zu wenig Zeit zur Prüfung eingeräumt hatte.

Als Bürger erwarte ich, dass die Bahn nachweist, was sie versprochen hat: nämlich dass der neue Bahnhof deutlich leistungsfähiger ist als der bisherige. Wenn die Prüfung durch die unabhängigen Gutachter länger dauert, dann ist das eben so. Das objektive Ergebnis ist mir wichtig. Da kommt es nicht auf zwei Wochen an.

Bei Fahrplänen berechnet sich die Pünktlichkeit in Minuten. Als es bei der Schlichtung im Herbst 2010 um den Fahrplan im Tiefbahnhof ging, ist die Bahn bei ihrer Präsentation gewaltig ins Schwimmen gekommen.

In der Tat. Das hat mich erheblich irritiert. Die Bahn hat die hochkomplexe Fahrplansimulation in keinster Weise verständlich vermittelt. Ich fand die Reaktion von Heiner Geißler deshalb richtig. Der Fahrplan muss für uns als Laien verständlich dargestellt werden. Ich erwarte als Bürger von einem öffentlichen Unternehmen, dass es diesbezüglich seine Hausaufgaben macht. Deshalb muss die Bahn nacharbeiten.

Am angeblich bestgeplanten Projekt aller Zeiten. Nach mehr als 15 Jahren Vorlauf.

Im Grundsatz habe ich Vertrauen in ein Unternehmen, das täglich mehr Passagiere befördert als die Lufthansa im ganzen Jahr. Und ich vertraue der deutschen Ingenieurkunst. Mit der sind wir bisher nicht schlecht gefahren.

Aber der künftige Fahrplan...

...wird funktionieren. Da bin ich sicher. Lassen Sie es mich mal frei nach Adam Riese versuchen: Wenn im Tiefbahnhof künftig 48 Züge pro Stunde halten sollen und es acht Bahnsteige gibt, dann halten pro Bahnsteig sechs Züge in der Stunde. Damit wird deutlich: für jeden Zug bleiben theoretisch zehn Minuten Zeit zum Umsteigen. Am Frankfurter Flughafenbahnhof beträgt die durchschnittliche Zeit beim Umsteigen übrigens rund vier Minuten. Und dort steigen täglich Tausende mit ihren Koffern ein und aus.

Das alles ist in den vergangenen Tagen vom Schweizer Unternehmen SMA geprüft worden. Die Gegner haben schon vor der Präsentation der Ergebnisse angekündigt, dass ihr Protest anschließend weitergehen wird.

Ja, und damit machen sie sich unglaubwürdig. Ich erwarte, dass alle Beteiligten, wie gemeinsam vereinbart, die Ergebnisse des Stresstests akzeptieren - Gegner und Befürworter. Unabhängig davon, wie der Stresstest ausfällt. Niemand verlangt, dass dann aus Gegnern Befürworter werden. Aber ich halte wenig von Fundamentalopposition. Vor allem dann nicht, wenn sie ins Kriminelle abgleitet.

Angenommen, der Stresstest würde das Projekt in seinen wesentlichen Punkten bestätigen. Planen Sie als Oberbürgermeister dann auf das Aktionsbündnis zuzugehen?

Ich bin immer gesprächsbereit und kann mir gut vorstellen, mich mit den Hauptgruppen der Gegner zusammenzusetzen. Vor allem mit Frau Dahlbender werde ich reden. Mir liegt viel daran, dass wir in den nächsten Wochen nicht das Gleiche erleben werden wie im vergangenen Sommer. Damals gab es eine für mich kaum fassbare Emotionalisierung, in die sich bei Einzelnen auch Aggressivität mischte. Daran kann der Bund kein Interesse haben.

Ein Gespräch mit Frau Dahlbender wird womöglich nicht ausreichen, um den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass sie ernst genommen werden.

Wir dürfen nicht den Fehler begehen, auf die Fragen der Bürger keine Antworten zu geben. Ursprünglich wollte ja das Land ein Dialogforum einrichten. Weil das Land offensichtlich nicht mehr dabei ist, planen wir dies nun als Stadt. Wir wollen dort alle Themen ansprechen, die wir als Bürger zum Bau von Stuttgart 21 haben: zu den Bäumen, zum Mineralwasser, zu städtebaulichen Fragen.

Wann soll das Dialogforum starten?

Noch im Herbst. Dann wird auch ein erweitertes Konzept für das Grundwassermanagement auf dem Tisch liegen, über das wir diskutieren können. Ich will auch nach dem Stresstests auf Transparenz und Kommunikation setzen. Sonst würden wir wieder Gefahr laufen, in eine Sprachlosigkeit zu verfallen. Die Fronten könnten sich erneut verhärten.

Sie haben vor einem Jahr Ihre bittersten Stunden als Oberbürgermeister erlebt. Bei der Eröffnung des Weindorfs wurden Sie ausgepfiffen und beleidigt. Sie antworteten von der Bühne herab: "Wir lassen uns das Weindorf nicht vermiesen." Würden Sie heute im Rückblick anders reagieren?

An diesem Tag habe ich am Nachmittag erfahren, dass am Bahnhof die Bauarbeiten begonnen haben und sich die Stimmung hochschaukelt. Uns stand eine Gruppe von sehr aggressiven Menschen gegenüber, die bewusst die Weindorf-Eröffnung sprengen wollte. Mit Beleidigungen und massiven persönlichen Bedrohungen. Da gab es keine Dialogmöglichkeit für mich.

Es lässt tief blicken, wenn Sie als Oberbürgermeister selbst erst am Tag der Bauarbeiten von deren Beginn erfahren haben. Die Bahn ist in den vergangenen Wochen aufgrund von Papieren aus der Vergangenheit unter Druck geraten. Sie hat gegenüber dem Parlament Informationen zurückgehalten, die belegen, dass die Neubaustrecke teurer wird.

Ich beschäftige mich nicht mit Gerüchten und angeblichen internen Aktenvermerken. Die Bahn ist unser Vertragspartner. Für mich kann nur das relevant sein, was in den Verträgen steht. Dass Kostenschätzungen im Laufe der Planungsphasen schwanken, kann jeder nachvollziehen, der sein eigenes Häusle gebaut hat. Entscheidend ist, was es unterm Strich wirklich kostet. Das wissen wir, wenn wir die Ergebnisse der Ausschreibungen kennen, wenn gebaut wurde.

Was passiert, falls Stuttgart 21 doch teurer würde? Zahlt nur die Bahn drauf, oder ist das Land mit in Haftung?

Derjenige, der baut, trägt die Verantwortung. Das ist bei Stuttgart 21 nicht anders als beim Einfamilienhäusle. Es wäre die Aufgabe der Bahn, mögliche Mehrkosten in den Griff zu bekommen. Darüber hinaus haben wir einen Risikofonds vereinbart. Der würde scheibchenweise in Anspruch genommen, falls es teurer würde.

Aber auch dafür gibt es eine Grenze. Die liegt für das Gesamtprojekt bei 4,5 Milliarden Euro. Was geschieht, wenn diese Schallmauer durchbrochen wird?

Es ist nicht seriös, darüber zu spekulieren, was vielleicht im Jahr 2018 oder 2020 sein mag, wenn die Schlussrechnungen vorliegen. Falls das Projekt teurer würde, gibt es in den Verträgen nur eine Vereinbarung darüber, dass man Gespräche aufnimmt.

Stuttgart 21 verändert nicht nur die Stadt. Auch die politische Landschaft sieht heute grundlegend anders aus als noch vor drei Jahren. Ihre Partei, die CDU, hat zwei krachende Wahlniederlagen erlitten.

Wenn Sie die Analysen lesen, dann erkennen Sie, dass Stuttgart 21 nur in der Innenstadt das dominierende Thema war. Die Stuttgarter Grünen profitieren von einem bundesweiten Trend. Deshalb muss die CDU viel grundsätzlicher über programmatische Fragen nachdenken. Wie kann sie die Menschen insbesondere in Großstädten wieder besser ansprechen?

Der Politikwissenschaftler Oscar Gabriel hat nach der Landtagswahl von hausgemachten Fehlern und einer Arroganz der Macht gesprochen.

Es ist nicht meine Art, oberlehrerhaft Schelten zu verteilen. Aber eines ist klar: wenn wir die Dinge einfach weitertreiben lassen, wird die CDU in Stuttgart nicht mehr die prägende Kraft sein. Wenn es einfache Antworten gäbe, hätten wir sie längst gefunden.

Was fehlt der CDU, was die Grünen offensichtlich besitzen und sie starkmacht?

Wir haben einen Megatrend hin zu grünen Techniken, zu regenerativen Energien. Ich habe in Stuttgart seit vielen Jahren den Umweltschutz forciert, unter anderem mit unserem Klimaschutzkonzept. Aber grüne Politik wird von vielen Bürgern auch den Grünen zugeordnet.

Die haben sie ja auch erfunden.

Die haben sie nicht erfunden. Aber das ist deren Markenkern.

Wie sollte sich denn die "Marke CDU" Ihrer Meinung nach präsentieren?

Wir stehen noch immer für Wirtschaftsfreundlichkeit, für soziale Marktwirtschaft, für sichere Arbeitsplätze, für die Unterstützung von Handwerkern. Die CDU war in der Vergangenheit auch immer die Partei der Familien. Doch inzwischen wissen wir, dass sich traditionelle Muster auflösen: Es gibt mehr Alleinerziehende und Patchworkfamilien. Darauf muss sich die CDU als Großstadtpartei einstellen. Das ist die Herausforderung.

Die Köpfe einer Partei entscheiden maßgeblich mit darüber, wie diese von den Menschen wahrgenommen wird. An der Basis der CDU ist nun eine Diskussion darüber entbrannt, ob die Parteimitglieder über den OB-Kandidaten für die Wahl im nächsten Herbst abstimmen sollten. Was halten Sie von dieser Idee?

Es gibt viele Formen, wie man einen Kandidaten findet. Ich rate dazu, das Anfang nächsten Jahres zu beleuchten - im Lichte der politischen Lage, die wir dann vorfinden. Eines ist klar: ein Kandidat, der ausschließlich von der CDU unterstützt würde, könnte bei der Wahl nicht genug Stimmen auf sich vereinen. Er müsste weitere Kreise in der Bevölkerung gewinnen, sonst wäre er chancenlos. Die CDU steht in Stuttgart zurzeit vielleicht bei 30 Prozent. Und das ist optimistisch geschätzt. Ein Kandidat oder eine Kandidatin der CDU müsste mehr als 20 Prozent der Stimmen aus anderen politischen Lagern holen.

Sie selbst halten sich Ihre Entscheidung weiterhin offen.

Das ist schon eine eigenartige Debatte. Ich halte es für unangemessen, permanent über diese Frage zu diskutieren. Ich habe bis zum 7. Januar 2013 Verantwortung übertragen bekommen. So lange werde ich auf jeden Fall schaffen und entscheiden.

Vervollständigen Sie bitte folgenden Satz: "Ein chancenreicher CDU-Kandidat für dieOB-Wahl im Herbst nächsten Jahres müsste...

...das Vertrauen der Bürger in vielen politischen Lagern gewinnen.

Seite 3: Wolfgang Schuster und der Stresstest

Karriere: Seit mehr als 13 Jahren führt Wolfgang Schuster, der Ziehsohn seines Amtsvorgängers Manfred Rommel, das wichtigste Rathaus im Land. Dabei setzte er Akzente jenseits von Stuttgart 21, das seit einiger Zeit andere kommunalpolitische Themen überlagert. 2004 startete er das Projekt „kinderfreundliche Stadt“ – ein Ziel war es, die Lage bei der Kinderbetreuung so zu verbessern, dass junge Mütter schneller wieder ins Berufsleben zurückkehren können. Der CDU-Politiker vermittelte auch seine Wertschätzung für Einwanderer – für die in vielen Fällen gelungene Integrationspolitik wurde Stuttgart ausgezeichnet. Seit der Streit über Stuttgart 21 an Schärfe gewonnen hat, ist der Oberbürgermeister immer stärker in die Kritik geraten. Seine Gegner werfen ihm unter anderem vor, dass er einst einen Bürgerentscheid für den Fall zugesichert habe, dass die Kosten stark steigen würden – und diesen später dann abgelehnt habe.

Schlichtung: In den Schlichtungsgesprächen im Herbst 2010 vereinbarten Gegner und Befürworter, Stuttgart 21 einem Stresstest zu unterziehen. Dieser sollte vor allem die Leistungsfähigkeit und die Kostenkalkulation des Tiefbahnhofs überprüfen. Das Schweizer Unternehmen SMA ist als unabhängiger Gutachter bestellt worden. Inzwischen zweifeln Projektkritiker die Aussagekraft des Stresstests an. Die Diskussion Ende des Monats moderiert Heiner Geißler.