Stuttgarts früherer Oberbürgermeister Wolfgang Schuster spricht über seine neue Lust am Spazierengehen – eine ganz bewusste Entschleunigung nach dem Spitzenjob im Rathaus. Außerdem redet er über seine politischen Ziele und seine Stärken und Schwächen als Opa.

Stuttgart – - Das Problem ist die Auswahl. Wolfgang Schuster hätte sich in halb Stuttgart zum Sommerinterview verabreden können, an vielen Orten hat der frühere Oberbürgermeister das Bild der Stadt mitgeprägt. Schließlich entscheidet sich der 64-Jährige für die Stadtbibliothek im Europaviertel. Am Empfang begrüßt er einen Mitarbeiter der Bibliothek, dann heißt es: Aufzug oder Laufen. Schuster entscheidet sich für die Treppen, erzählt zwischen Erdgeschoss und siebtem Stock, dass er am Morgen nicht von seinem Wecker, sondern von seinem dreijährigen Enkelsohn geweckt wurde. Oben, auf dem Dach der Stadtbibliothek, trinkt Schuster Schwarztee, redet über Privates und die Politik, von der er nicht lassen kann.
Herr Schuster, früher hat Ihnen der Terminkalender auch die Abende diktiert. Wie schmeckt Ihnen Ihre neue Freiheit?
Als ich mich entschieden habe, nicht noch einmal für den Posten des Oberbürgermeisters zu kandidieren, stand für mich fest, dass ich nicht mehr in der Taktung weiterarbeiten werde wie zuvor. Als OB hatte ich täglich einen hohen Arbeitsdruck und große Verantwortung. 14-Stunden-Tage waren keine Seltenheit. Das ist in der Form für mich weggefallen, jetzt bin freier, auch freier darin, „Nein“ zu sagen.
Und zu was sagen Sie stattdessen „Ja“?
Zu meiner Familie beispielsweise, um die ich mich stärker kümmern kann. Inzwischen habe ich vier Enkelkinder, worüber ich mich sehr freue. Ich bemühe mich, ein guter Opa zu sein.
Wie sieht das konkret aus?
Eine meiner Töchter wohnt in Stuttgart, gar nicht weit von uns entfernt, ihre beiden Kinder kommen gerne zu uns, mit denen unternehme ich viel. Wenn das Wetter so schön ist wie heute, gehe ich mit ihnen in den Wald, den sie entdecken. Das Dumme ist nur: ich kenne die meisten Pflanzen nicht. Deshalb versuche ich, die Kleinen durch etwas anderes abzulenken. Wie Kinder mit ihrer Neugier die Welt entdecken, ist wunderbar, das bereichert mich. Schön, dass ich jetzt mehr Zeit für meine Enkelkinder habe.
Vermutlich hat sich noch mehr in Ihrem Alltag verändert, seitdem Sie nicht mehr von einem Termin zum nächsten hetzen.
Das beginnt schon bei der Art, wie ich mich in Stuttgart fortbewege. Ich hatte 27 Jahre lang ein Auto mit Fahrer. Heute gönne ich mir den Luxus und gehe viel zu Fuß oder fahre mit der Stadtbahn. Ich habe mich bewusst dafür entschieden, auf ein eigenes Auto zu verzichten.
Sie besitzen gar kein Auto?
Meine Frau besitzt eines, aber ich fahre selten damit. Ich nutze hin und wieder „Car2Go“ oder den Bus, gelegentlich auch mal ein Taxi.
Warum haben Sie sich für ein weitgehend autofreies Leben entschieden?
Weil ich bewusst anders leben möchte. Ich bin nicht mehr so gestresst, deshalb kann ich es mir heute leisten, morgens etwas länger zu brauchen. Das Laufen ist für mich ein bewusster Akt der Entschleunigung, ein Teil meines neuen Lebens. Von zu Hause aus komme ich von der Gänsheide morgens in 25 Minuten zu Fuß ins Büro beim Charlottenplatz, für den Rückweg hinauf nehme ich abends meistens die Stadtbahn. Der Weg zu mir nach Hause führt über die Sünderstaffel, wenn man diese hinaufläuft, hat man das Gefühl, für alle Sünden gebüßt zu haben.