Wo auf dieser Brücke zwischen den beiden Polen stehen Sie?
Ich trete für eine Kirche ein, die die Aussagen, die ihr geschenkt sind, nicht jeden Tag neu erfindet und der Tagesaktualität opfert. Gleichzeitig wollen wir uns als Kirche nicht zu einer Sektenkultur zurückbilden und müssen deshalb den Anschluss an gesellschaftliche Entwicklungen behalten.

Geht es ein bisschen konkreter.
Wir setzen uns beispielsweise für den interreligiösen Dialog ein. Gleichzeitig bin ich als Christ, der an Heiligabend die Geburt Christi feiert, nicht bereit zu sagen, jetzt sehen wir mal von Jesus als dem Sohn Gottes ab, damit wir einen allgemeinen Gottesbegriff hinkriegen. Ja zur Friedensarbeit in einer gemischt-religiösen Gesellschaft, aber nein zu einer Verflachung der eigenen religiösen Überzeugungen.

Wie sieht diese Balance bei der Frage der Homosexualität aus?
Die Bibel wird in dieser Frage noch immer unterschiedlich interpretiert, auch hier in Württemberg. Ich bin Vizepräsident des Lutherischen Weltbundes und wenn ich von dieser Perspektive aus auf den Konflikt blicke, ist es schon als Erfolg zu werten, wenn die Diskussion über Homosexualität im Pfarrdienst einer Kirche nicht zu einem gegenseitigen Ausschlussgrund wird, sondern man die jeweils andere Position toleriert. Es gibt genügend Kirchen, die an dieser Frage zerbrechen.

Sie fordern eine pure Selbstverständlichkeit: Toleranz üben.
Ist Toleranz üben heute wirklich eine Selbstverständlichkeit? Toleranz zu üben heißt ja nicht, alles ist gleichgültig. Toleranz heißt auch nicht, nur das zu akzeptieren, was meinem Standpunkt nahekommt. Wer sich von Gott geliebt weiß, ist so weit stabilisiert, dass er bereit sein muss, Fremdes zu akzeptieren.

Interessant beim Thema Homosexualität wie bei S 21 ist der Umgang mit der Bibel. Es findet sich immer die passende Stelle.
Es ist eine Gefahr durch alle Jahrhunderte, dass man Bibelstellen als Beleg für die eigene Meinung sucht. Natürlich dürfen wir einzelne Stellen zitieren, das tun wir auch mit den Tageslosungen. Aber wir müssen den Zusammenhang im Auge behalten. Man kann aus der Bibel auch den Satz zitieren: „Es gibt keinen Gott“, wenn man den Zusammenhang weglässt. Was in diesem Fall der erste Teil ist: „Der Tor spricht: Es gibt keinen Gott.“

Wie wird Ihre Weihnachtsbotschaft lauten?
Weihnachten ist immer mit der Friedensbotschaft verbunden. Das Traurige dabei ist, dass die Menschen vielleicht mit der Schulter zucken und sich sagen, jetzt kommt der schon wieder mit ein bisschen Frieden, dabei ist der reale Hintergrund noch immer gegeben. Man muss sich nur das Leiden in Syrien anschauen. In Tansania und Nigeria brennen Kirchen. Und wenn ich an die Labilität denke, mit der in der islamischen Welt, aber auch in anderen Weltgegenden, Konflikte ausbrechen können, dann muss ich sagen, wir haben dieses Kind in der Krippe immer nötig, um Hoffnung zu schöpfen.

Wer kennt das Kind in der Krippe denn überhaupt noch?
Weihnachten wird gerne gefeiert. Wir müssen die Glaubensinhalte der christlichen Feste so erklären,dass sie verstanden werden. Die Feiertage bringen auch für Menschen, die weniger gläubig sind, eine heilsame Unterbrechung ihres Alltags. Wer einmal in Asien war, weiß, was ich meine. Dieses Rund-um-die-Uhr-Laufen möchte ich nicht. Wir Kirchen müssen den Wert der Feiertage deutlich machen. Vielleicht brauchen wir dafür eine jüngere Sprache.

Wie soll die Botschaft dann lauten: Wir gehen jetzt zum Chillen in die Kirche?
Warum nicht? Der Jugendliche verbindet mit Chillen etwas, das ihm guttut. Auch das Evangelium tut den Menschen gut. Wichtig ist, wir erreichen Menschen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Milieus.

Wie bekommt man die Frommen und die Partyjugend zusammen?
Das ist eine spannende Aufgabe. Wir in Württemberg neigen dazu, viele Sondergottesdienste zu veranstalten. Wir haben Megaevents wie den Landesposaunentag, wir haben das Church-Night-Programm am Reformationstag, die Nachtschicht-Gottesdienste mit Prominenz, da ist es wichtig, immer wieder erkennbar zu machen, wir sind eine Kirche, wir leben uns nicht auseinander und sehen nur das Projekt, das uns gut gefällt. Das wird die große Herausforderung der Zukunft sein.

Heißt das, der Gottesdienst am Sonntag um zehn hat sich überlebt?
Der Sonntagsgottesdienst wird immer wichtig bleiben, weil er vielen Menschen Halt gibt. Wir müssen herausfinden, was das Stand- und was das Spielbein ist. Wenn die Kirche Traditionen ohne Weiteres aufgibt, dann verliert sie an Verlässlichkeit. Viele wünschen sich aber Verlässlichkeit.

Wenn Sie die demografische Entwicklung anschauen, haben Sie in Stuttgart in ein paar Jahren mehr Muslime als Protestanten. Macht Ihnen diese Entwicklung Angst?
Angst ist ein schlechter Ratgeber. Natürlich werden wir uns in neuen Entwicklungen zurechtfinden müssen. Früher waren die Ramadanfeiern weit weg, jetzt werden wir von islamischen Nachbarn dazu eingeladen. Die fragen uns: Was glauben Christen? Jetzt liegt es an uns, den eigenen Glauben so weiterzusagen, dass Menschen, die nicht aus unserer Tradition kommen, verstehen, was uns trägt und hält. Vielleicht verstehen wir uns dann auch selber besser.