Achim Dercks, Vizechef des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, sieht gute Berufschancen für Schulabgänger. Nach seinen Einschätzungen versuchen immer mehr Unternehmen, Schulabgänger mit Extraleistungen für eine Lehrstelle zu gewinnen.

Berlin – - Die Industrie- und Handelskammern (IHK) beobachten, dass immer mehr Unternehmen Auszubildende mit Extraleistungen an sich binden wollen. Dennoch entscheiden sich viele Abiturienten für ein Studium.
Herr Dercks, immer mehr Abiturienten ziehen das Studium einer Lehrstelle vor. Gibt es bald zu wenige Lehrlinge?
Das ist zu befürchten. Viele Unternehmen erleben schon jetzt, dass sie für ihre Lehrstellen keine Jugendlichen finden. Die Verschiebung hin zum Studium macht vor allem Unternehmen zu schaffen, die anspruchsvollere Ausbildungen anbieten. Für diese Lehrstellen sind gute Schulabschlüsse erforderlich.
Nach wie vor gilt das Studium als Garant für ein gutes Auskommen. Hat die berufliche Ausbildung ein Imageproblem?
In der internationalen Debatte erleben wir gerade das Gegenteil. Alle Welt blickt mit großem Respekt auf die duale Ausbildung in Deutschland und will von unseren Erfahrungen lernen. In Südeuropa wird versucht, das deutsche System zu übernehmen. Paradoxerweise gehen junge Menschen in Deutschland immer häufiger den Weg über das Studium. Das hängt sicherlich damit zusammen, dass in den vergangenen Jahren viele Institutionen gesagt haben, das Studium sei das A und O. Dies behauptete beispielsweise über eine lange Zeit die internationale Wirtschaftsorganisation OECD fest. Inzwischen ist die OECD in diesem Punkt vorsichtiger geworden. Analysen zeigen, dass künftig der Mangel an dual ausgebildeten Fachkräften stärker sein wird als bei Hochschulabsolventen.
Die Zahl der Lehrstellen geht leicht zurück, die Schülerzahlen steigen zumindest in einigen Bundesländern wegen doppelter Abiturjahrgänge. Wird es schwieriger, in diesem Jahr einen Ausbildungsplatz zu ergattern?
Nach Einschätzung der Industrie- und Handelskammern sind die Aussichten für die jungen Menschen hervorragend. Es gibt kaum Unterschiede zum letzten Jahr. Zurückgezogen haben sich jedoch die Betriebe, die in den vergangenen Jahren erfolglos Auszubildende suchten. Das sind auf der einen Seite Unternehmen, die anspruchsvollere Lehrberufe anbieten und den Wettstreit um die Abiturienten spüren. Andererseits sind es Betriebe, die Ausbildungsplätze in Bereichen anbieten, die für junge Menschen nicht so attraktiv sind.
Können Sie Beispiele nennen?
Im höher qualifizierten Bereich gibt es noch viele freie Stellen für Elektroniker, Mechatroniker oder Fachinformatiker. Das sind Berufsbilder, in denen gute Mathematik- und Physikkenntnisse notwendig sind. Zugleich finden sich viele Berufe, die sich auch für Jugendliche mit weniger guten Schulleistungen und ausgeprägten praktischen Fähigkeiten eignen. Im Einzelhandel, im Hotel- und Gaststättengewerbe, im Verkehr- und Logistikbereich sind noch viele Plätze zu haben. Den jungen Menschen stehen viele Türen offen. Die gute Lage auf dem Lehrstellenmarkt zeigt sich auch daran, dass die Zahl der Altbewerber sinkt.
Der DIHK sagt, es gebe noch 100 000 unbesetzte Lehrstellen. Falls sich diese Zahl bestätigt, wäre das ein neuer Rekord?
Der Markt ist noch in Bewegung. Das Fazit ziehen wir erst zum Jahresende. Unsere Erfahrung zeigt, dass insbesondere Abiturienten oft doppelgleisig fahren und sich für eine Ausbildung und einen Studienplatz bewerben. Da Universitäten aber immer stärker überlaufen sind, wird mancher doch noch eine Ausbildung machen. Für eine Bilanz ist es zu früh.
Kommen diejenigen, die sich kurzfristig für eine Lehrstelle entscheiden, zum Zug?
Die Chancen sind gut. Voraussetzung ist, dass Jugendliche nicht nur auf einen Beruf fixiert sind, der in der Heimatregion vielleicht nicht mehr zu bekommen ist. Die Chancen sind noch besser, wenn jemand mobil ist. Auch wer nicht so gute Noten hat, muss den Kopf nicht in den Sand stecken.
Vor einigen Jahren herrschte noch ein Mangel an Lehrstellen, jetzt gibt es einen Lehrlingsmangel. Was kann die Wirtschaft dagegen tun?
Die Unternehmen können die Demografie nicht verändern. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es weniger Jugendliche geben wird. Deshalb kommt es darauf an, dass keiner verloren geht. Immer mehr Unternehmen engagieren sich schon in der Schulzeit und versuchen, junge Menschen an sich zu binden. Einige Betriebe geben beispielsweise Nachhilfe und fördern schulschwächere Jugendliche, die sich in der Praxis oft als sehr engagiert erweisen. Unternehmen versuchen junge Menschen auch mit Extraleistungen zu locken. So werden Auslandsaufenthalte nicht nur im Studium, sondern auch in der dualen Ausbildung angeboten. Hier und da gibt es schon einen Laptop, eine Weiterbildung während der Ausbildung oder sogar einen kleinen Dienstwagen. Solche Anreize nehmen zu. Dies zeigt, dass Unternehmen immer mehr tun, um für junge Menschen attraktiv zu sein.