Thomas-Gabriel Rüdiger (33) erforscht die kriminologische Bedeutung von Kommunikationsrisiken in sozialen Medien. Die Verbesserung der Internetprävention ist eine Gesellschaftsaufgabe, sagt der Fachmann.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Stuttgart - Thomas-Gabriel Rüdiger (33), verheiratet und Vater von zwei Töchtern, ist Kriminologe an der Fachhochschule der Polizei des Landes Brandenburg. Er erforscht die kriminologische Bedeutung von Kommunikationsrisiken in sozialen Medien wie Cybergrooming, Sexting oder Cybermobbing. Zurzeit promoviert er in Jura. Thema: Die sexuelle Viktimisierung von Minderjährigen in virtuellen Welten.

 
Herr Rüdiger, die kanadische Schülerin Amanda Todd nahm sich das Leben, nachdem sie im Internet erpresst wurde. Wie häufig kommt so etwas in Deutschland vor?
Das Dunkelfeld ist immens. Es gibt mehrere deutsche Gerichtsurteile, die zeigen, dass Täter über Erpressungsmethoden vorgegangen sind. Teilweise hatten sie 150 und mehr Opfer. In einem Sachverhalt hatte ein Täter zum Beispiel 70 Opfer von elf bis 15 Jahren, allesamt Mädchen. Der Mann hatte sogar mit der Ermordung der Eltern gedroht, um weitere Bilder zu erpressen. Ein Opfer hatte sich endlich offenbart, und nur dadurch konnte der Fall aufgerollt und der Kreislauf bei den anderen Opfern aufgebrochen werden.
Wie können Kinder besser geschützt werden?
Aus meinem Blickwinkel ist es so, dass die sozialen Medien gegenwärtig einen öffentlichen Raum bilden. Man kann das gut mit dem Straßenverkehr vergleichen. Dort erklären die Eltern den Kindern, dass es öffentliche und private Bereiche gibt und wie sie sich verhalten müssen. Erst erklären das die Eltern, später Erzieher und Lehrer. Irgendwann kommt sogar die Polizei dazu, man macht den Fahrradführerschein, noch später den Autoführerschein. Das alles funktioniert aber auch nur, weil wir Gesetze haben, die das unterstützen, und die Eltern auch schon damit aufgewachsen sind. Und die Polizei agiert sichtbar im Straßenverkehr, um diese Gesetze durchzusetzen.
Allerdings fehlen im Internet die für alle sichtbaren Verkehrsstreifen.
Viele betrachten soziale Medien nur als eine Form von kriminologischem Phänomen, als einen weiteren gelegentlichen Schauplatz von Kriminalität. In den Niederlanden und in England ist es mittlerweile normal, dass jeder Präventionsbeamte in verschiedenen sozialen Medien einen eigenen Account hat. Über diese Accounts sind die Beamten erreichbar. Damit ist die Polizei in den sozialen Medien präsent und ansprechbar. Bei uns gibt es Länderpolizeien, die im Prinzip noch nicht mal bei Facebook zu finden sind. Es gibt beispielsweise bisher nur drei Youtube-Accounts von Polizeibehörden in Deutschland. Die Videos, die man dort sehen kann, sind teilweise Jahre alt. Dabei bieten sich gerade gut gemachte Youtube-Videos für die Prävention an.
Also müssen sich Eltern selber schlau machen über WhatsApp, Youtube oder Google Playstore?
Ja, ganz klar. Der beste Schutz der Kinder sind informierte Eltern, die mit ihren Kindern auch über Risiken reden. Gib nicht einfach deine Adresse raus; sag nicht jedem, wie du heißt, poste keine Bilder von dir und gib nicht jedem deine Handynummer – das sind grundlegende Präventionsaspekte. Aber jetzt kommt die Frage: Woher sollen die Eltern das Wissen über die sozialen Medien haben?
Und wie lautet die Antwort?
Ich fordere beispielsweise flächendeckende Medienabende, die man den Eltern anbietet. Eigentlich wäre es sinnvoll, wenn Eltern eine Art Führerschein für soziale Medien erwerben würden.
Eine solche Verpflichtung wäre mit Sicherheit nicht mehrheitsfähig.
Wohl nicht. Aber es geht ja nicht um eine Überwachung oder Einschränkung der Kinder, sondern darum, dass Eltern in die Lage versetzt werden, mit ihren Kindern über die Risiken und Möglichkeiten zu reden und als Gesprächspartner infrage zu kommen. Es könnte eine bundesweite Konzeption erarbeitet werden, wie alle gesellschaftlichen Akteure von den Eltern über die Schule bis zur Polizei damit umgehen können. Das ist wirklich eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.