Nachbarschaft ist seit einigen Jahren ein Thema der Sozialwissenschaft. Der Stuttgarter Professor Paul-Stefan Roß erklärt im StZ-Interview, warum das so ist.

Lokales: Mathias Bury (ury)
Stuttgart – Paul-Stefan Roß (49) ist Professor im Fachbereich Sozialwesen der Dualen Hochschule Stuttgart. Zusammen mit seinen Studenten arbeitet er mit am Projekt Heslach im Blick. Wer eine Verbesserung der Nachbarschaft in einem Quartier fördern wolle, brauche einen langen Atem, sagt Roß.
Herr Roß, welche Bedeutung hat das Thema Nachbarschaft in der Sozialarbeit?
Es hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gezeigt, dass das Zusammenleben in den Städten und Stadtteilen nicht mehr so dicht ist, wie es früher einmal war. Nachbarschaftliche Kontakte ergeben sich nicht mehr von selbst, weshalb es sinnvoll erscheint, durch Projekte und gezielte Interventionen sozialer Arbeit nachbarschaftliche Netze zu stärken.

Warum kann eine Gesellschaft langfristig nicht auf ein nachbarschaftliches Miteinander der Menschen verzichten?
Das hat zwei Aspekte: Aus der Sicht der Kommunen, die, wie das so schön heißt, eine Gewährleistungsfunktion in der Daseinsvorsorge haben, geht es um eine Prävention, die langfristig auch Geld sparen soll. Durch die Vereinzelung und Vereinsamung gerade alter Menschen können eine Reihe von Folgeproblemen entstehen, etwa psychische Beeinträchtigungen. Und durch fehlende Aktivitäten vollziehen sich die Alterungsverläufe deutlich schneller, was für die Sozialversicherung wie die Städte sehr teuer werden kann.

Geht es vor allem um finanzielle Fragen?
Mindestens genauso wichtig ist der soziale Aspekt. Die Menschen haben das Bedürfnis nach Kontakten, sie wollen nicht nur auf professionelle und bezahlte Dienste angewiesen sein. Wie lange jemand noch in seinen eigenen vier Wänden leben kann, hat viel damit zu tun, ob es drum herum ein einigermaßen funktionierendes Netzwerk gibt und sich die Menschen umeinander kümmern.

Was kann Nachbarschaft leisten?
Nachbarschaft kann Aufmerksamkeit bieten, dass man mitbekommt, wie es um jemanden steht und man gegebenenfalls für weitere Kontakte oder Hilfe sorgt. Und es geht um kleine Hilfestellungen wie das Einkaufen oder das Wechseln einer Glühbirne. Entscheidend aber ist die menschliche Ansprache. Man muss dabei freilich realistisch bleibt: zu glauben, dass die Nachbarschaft alles mitträgt und das ersetzen könnte, was die Familie leistet oder geleistet hat oder dass sie professionelle Dienste ersetzen könnte, wäre eine Illusion. Die Nachbarschaft ist in diesem Zusammenspiel aber ein wichtiger Baustein.

Das Konzept der Erzeugung von Nachbarschaftsverhältnissen klingt ein wenig nach einer Mischung von nostalgischer Dorfromantik und Sozialkonstruktivismus.
Um Nostalgie geht es nicht. Nachbarschaft war auch früher nicht immer nur positiv und hat auch nicht überall funktioniert. Man kann Nachbarschaft auch nicht machen wie man eine Bank aufstellt. Aber man kann das Zusammenleben befördern durch gezielte Maßnahmen. Man inszeniert Nachbarschaft gewissermaßen und macht Handlungsangebote.

Was nicht immer funktioniert.
Nachbarschaft ist immer freiwillige Verpflichtung. Die Umfrage in Heslach hat auch gezeigt: zum großstädtischen Leben gehört für viele als Qualität, dass sie das Recht haben, nur für sich zu sein, ohne ständige soziale Kontakte und Kontrolle.

Was kann man denn überhaupt tun zur Förderung von Nachbarschaft, über das Veranstalten von Festen hinaus?
Auch die Infrastruktur und der Städtebau spielen eine große Rolle. Eine Frage ist: Gibt es öffentliche Plätze? Gibt es auch unverplante Lücken? In Heslach spielt zum Beispiel ein versteckter Spielplatz eine wichtige Rolle als Rückzugsort für Jugendliche. Und Geschäfte sind natürlich wichtig. Kann man bestimmte Läden oder Cafés in solchen Lagen fördern? Und Einrichtungen wie Seniorenzentren müssen ins Quartier offen sein. In Heslach ist der Vorteil, dass das Generationenhaus mit seinem Café Nachbarschaft diese Offenheit im Konzept hat.

Schnell wird man aber nichts erreichen.
Ich würde sagen: das ist ein Daueraufgabe. Mit einem zeitlich befristeten Projekt lässt sich das nicht bewerkstelligen.