Monika Wulf-Mathies, einst mächtige Chefin der Gewerkschaft ÖTV, wirft den Lokführern Kurzsichtigkeit vor. Die neuen Gesetzespläne sieht sie mit Skepsis.

Stuttgart – - Bis in die Neunziger Jahre sind Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst noch anders verlaufen als heute. Am Tisch saßen mehrere Gewerkschaften und verhandelten mit der Gesamtheit der Arbeitgeber von Bund, Ländern und Gemeinden. Monika Wulf-Mathies, die damals Chefin der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) war, ist skeptisch, ob die Tarifeinheit – wie von der Regierung geplant – wieder herzustellen ist, ohne dass neue Gefahren in Kauf genommen werden.
Frau Wulf-Mathies, woran ist die Tarifeinheit, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften in Deutschland jahrzehntelang praktiziert wurde, letztlich zerbrochen?
Solidarität ist leider eine gesellschaftlich immer weniger akzeptierte Kategorie, was ich sehr bedauere. Überall zeigen sich Tendenzen zur Individualisierung. Es schwindet die Bereitschaft, das Ganze im Blick zu haben und sich für gesamtgesellschaftliche Aspekte verantwortlich zu fühlen. Die Erfolge der Gewerkschaftsbewegung aber fußen nun einmal darauf, dass alle gemeinsam bessere Löhne und Arbeitsbedingungen erkämpfen. Das bedeutet, dass die Starken bereit sind, für die Schwächeren mit zu streiten. Das bedeutet, dass sie sich mit ihrem Eigeninteresse nicht zu 100 Prozent durchsetzen, aber gleichzeitig denen helfen, die sonst mangels Kampfkraft wenig erreichen würden.
Werden die Spartengewerkschaften von der Lokführergewerkschaft GDL bis zur Ärzteorganisation Marburger Bund dauerhaft erfolgreich sein?
Wir hatten im Öffentlichen Dienst unter meinem Vorgänger Heinz Kluncker auch einmal eine Spaltung zwischen ÖTV und DAG . Zu meiner Zeit haben wir dann wieder begonnen, gemeinsam zu verhandeln. Und das hat später dann auch die Entwicklung in Richtung Verdi mit ÖTV und DAG ermöglicht. Es hat also die Erkenntnis gesiegt, dass die Arbeitnehmer darunter leiden, wenn die Arbeitgeber die Chance des „Teile und Herrsche“ bekommen. Spartengewerkschaften glauben in einer guten wirtschaftlicher Situation, sie könnten sich einen Vorteil verschaffen. Das kann sich in einer anderen konjunkturellen Lage aber auch wieder ändern. Ich glaube, dass die Spartengewerkschaften sich am Ende den Ast selbst absägen, auf dem sie sitzen.
Ist das Bundesarbeitsgericht mit seinem Urteil von 2010, das den Grundsatz „ein Betrieb, ein Tarifvertrag“ gekippt hat, schuld an der Entwicklung?
Alleine ist das Gericht sicher nicht für die Entwicklung verantwortlich, da hat wie erwähnt auch der Zeitgeist eine große Rolle gespielt. Aber früher hat das Bundesarbeitsgericht auch immer das Thema Tarifmächtigkeit als ein Kriterium mit ins Feld geführt. Damit war nicht nur die Streikfähigkeit aufgrund einer spezialisierten Tätigkeit gemeint, sondern auch die Repräsentativität im Unternehmen.
Führt der Gesetzentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles ein stückweit in Richtung Tarifeinheit zurück?
Entscheidend ist, was das Bundesverfassungsgericht am Ende sagt. Für den Augenblick mag das Gesetz zur Tarifeinheit hilfreich sein. Ich habe aber die Sorge, dass so ein Gesetz auch einmal einer anderen politischen Mehrheit Lust auf zum Beispiel gesetzliche Regeln für den Arbeitskampf machen könnte. Das hängt ja alles miteinander zusammen. Wir haben ein sehr delikates Gleichgewicht. Wenn man jetzt an einer Stelle etwas repariert, dann könnten sich in Zukunft Klempner finden, die zum Beispiel das Arbeitskampfrecht an die Verhältnismäßigkeit binden wollen oder Regeln dafür verlangen, wann überhaupt ein Arbeitskampf stattfinden darf.
Solche Diskussionen kommen jetzt wieder auf, sie wurden aber auch in der Vergangenheit immer wieder einmal geführt.
Wir hatten auch schon mal Diskussionen über eine Zwangsschlichtung im öffentlichen Dienst nach dem Kluncker-Streik 1974. Damals gab es auch die Überlegung, so etwas ähnliches wie das amerikanische Antistreikgesetz (Taft-Hartley-Gesetz) einzuführen,das dem US-Präsidenten die Möglichkeit gibt, eine Abkühlungsphase für maximal 80 Tage zu verordnen. Es ist uns gelungen, stattdessen eine Schlichtungsvereinbarung abzuschließen, die die Entscheidung über das Schlichtungsergebnis allein den Tarifvertragsparteien überlässt.
Welche Folgen wird es haben, wenn das Gesetz wie geplant verabschiedet wird?
Ich bin in meinem Urteil sehr gespalten. Und man hat ja auch gemerkt, wie lange Frau Nahles überlegt und geprüft hat, bis sie einen Entwurf vorgelegt hat. Ich habe die Sorge, dass da die Büchse der Pandora geöffnet wird. Deshalb nehme ich es der GDL auch so übel, dass sie nicht die Folgen ihres Handelns bedenkt. Im Augenblick mag die Situation wunderbare Allmachtsgefühle wecken. Aber morgen oder übermorgen kann es schon ganz anders aussehen. Und das dann nicht nur für sie, sondern für Millionen, denen es schlechter geht als den Lokomotivführern, und die darauf angewiesen sind, dass gewerkschaftliche Solidarität noch etwas zählt.