In der Sindelfinger Ulu-Moschee diskutieren Christen und Muslime über ihr Verhältnis zum Staat.

Sindelfingen - Muslime sind nicht fähig, sich in ein demokratisches System einzufügen. Die Scharia, die islamische Gesetzgebung, bestimmt ihr Leben. Solche angstbesetzten Stereotypen bestimmen zurzeit die öffentliche Diskussion. In Sindelfingen hat der Christlich-Islamische Dialog eine lange Tradition. Und so ist es deshalb auch in der momentan aufgeheizten Stimmung möglich, diese Fragen sachlich zu diskutieren. Am Dienstagabend luden die Akteure des Dialogs zum Thema „Wie stehen Christen und Muslime zum Staat“ in die Ulu-Moschee ein. Rund 70 Interessenten folgten der Einladung.

 

Der Kölner Jurist Engin Karahan, der als Rechtsreferent des Islamrats an zwei Islamkonferenzen teilgenommen hat, gab eine Einführung in die Sichtweisen aus muslimischer Perspektive. Die große Überraschung für viele Zuhörer: „Die Scharia ist kein unverrückbares Gesetzeswerk, sondern ein Regelwerk, das in 1400 Jahren entstanden ist und sich ständig erweitert“, erklärte der Experte. „Breiter Weg“ bedeute Scharia wörtlich übersetzt „Und die Scharia ist in der Tat auch sehr breit, passt in kein Buch“. sagte Karahan.

Für einen Muslim gebe es nicht die Trennung in weltlich und geistlich. „Alles kann ein Gottesdienst seine: Gute Taten sind ein Gottesdienst, aber auch Zähneputzen, um den Körper zu pflegen, kann ein Gottesdienst sein.“ Deshalb regle die Scharia sowohl den Alltag als auch religiöse Fragen, das soziale Denken und ethische Fragen. Dabei gebe es auch durchaus sich widersprechende Ansichten und Anweisungen.

Keine Handlungsanweisung für einen Gottesstaat

Eines jedoch sei die Scharia nicht: eine Handlungsanweisung für einen Gottesstaat. Im Gegenteil. Viele bedeutende islamische Rechtsgelehrte hätten sich stets gegen die Macht des Kalifen und an die Seite der Unterdrückten gestellt, betonte Karahan.

Auch im Christentum gab es Phasen, in denen sich die Kirche bewusst gegen den Staat gestellt habe, berichtete anschließend der Sindelfinger Pfarrer Martin Frank. Dies sei in den ersten Jahrhunderten des Christentums so gewesen, aber auch in der Bekennenden Kirche während des Dritten Reichs. Dazwischen aber habe es immer wieder auch lange Zeiten gegeben, in denen die Kirche sich an die Seite der Machthabenden stellte – nach dem Motto „Eine Hand wäscht die andere“ –, oder das Christentum gar zur Staatsreligion erhoben wurde. Der Reformator Martin Luther habe die Ansicht vertreten, dass jeder Christ eine staatliche und eine religiöse Seite habe, die man trennen müsse. Wenn der Staat zum Tyrannen würde, sei Widerstand gegen die Staatsgewalt gefragt.

Heute könne man in Deutschland angesichts der Vielfalt nicht mehr vom christlichen Abendland sprechen, sagte Frank. Aufgabe der Religionen sei es, ihre Werte in die Gesellschaft einzubringen und dabei „die religiöse Sprache in eine öffentlich verstehbare zu übersetzen“.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam der Muslim Engin Karahan. „Der Islam bietet keine Staatsform an, sondern grundlegende Werte. Einen Widerspruch zwischen Scharia und Verfassungsstaat gibt es nicht“, sagte er.