Was kann junge Männer in den Dschihad treiben? Eine Annäherung am Beispiel des 24-jährigen Ismail I., dem am Stuttgarter Oberlandesgericht gerade der Prozess gemacht wird.

Stuttgart - Die jungen Männer, mit denen er es zu tun hat, gleichen sich in vielem: Es sind junge Männer, denen die Orientierung fehlt, deren Familie keine Struktur hat, die nicht wissen, wohin mit sich. „Wenn sie jemanden zu uns ins Büro mitbringen, dann sind es die Mütter“, sagt Manfred Schmitt von der Kriminalinspektion Staatsschutz der Stuttgarter Polizei. Das ist ein Symptom, das er und sein Kollege Martin Lang immer wieder beobachten: Die Familien sind nicht intakt, die Väter fehlen. „Man glaubt es nicht, aber die meisten erzählen, dass man bei ihnen zu Hause nie gemeinsam zum Essen an einem Tisch sitzt“, sagt Martin Lang.

 

 Ismail I. ist einer, auf dessen Leben diese Analyse ein Stück weit zutrifft. Er muss sich zurzeit vor dem Oberlandesgericht verantworten, weil er sich in Syrien Terrormilizen angeschlossen haben soll. Er kam nach einer Kampfausbildung im Herbst 2013 zurück nach Stuttgart, um dann ein weiteres Mal aufzubrechen mit neuer Ausrüstung für die IS-Kameraden in Syrien. Das flog auf: Die Polizei bekam Hinweise auf seine Einkäufe und fasste ihn schließlich beim zweiten Aufbruch in den Dschihad, den Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen.

Zum Prozessauftakt hat er ausgepackt – dabei aber abgestritten, ein IS-Kämpfer zu sein. Er habe nur helfen wollen, humanitär. Fotografien von ihm in Kampfmontur gibt es gleichwohl. Schon zu Beginn des Prozesses hat der Angeklagte von sich das Bild gezeichnet, dass er aufgrund von Lebenskrisen in den Heiligen Krieg geraten, aber kein beseelter und blutrünstiger Krieger sei. Sein Platz sei nicht bei den „Steinzeit-Islamisten“, die „total kranke Ansichten“ vom Islam hätten. „Es gibt nur politische Lösungen“, sagte er.

Zeuge des Bürgerkriegs

Er schilderte seine Herkunft – der Vater war aus Tripoli im Nordlibanon, die Mutter aus Syrien. Man sei eine hochangesehene Kaufmannsfamilie gewesen, aber im libanesischen Bürgerkrieg in den 1980er Jahren seien die Syrer einmarschiert und hätten Tripoli belagert. „Es gab viele Tote“, sagt Ismail I. „Oma und Opa wurden verschleppt, monatelang. Meine Oma ist dabei vergewaltigt worden, bis zu ihrem Tod hat sie die seelischen Narben nicht überwunden.“ Auch seine Mutter sei bis heute stark traumatisiert von den Ereignissen.

1985 wanderte die Familie nach Dänemark aus, dort kam der Junge 1990 zur Welt. Fünf Jahre später war er ohne Vater. Für dessen Trennung von der Familie hat der Sohn bei der Gerichtsverhandlung nur sarkastische Worte übrig. Ismail I. stellt sich als jemanden dar, dem das Los der Familie sehr nahe geht. „Wir konnten oft gar nicht über Syrien sprechen.“

 Im Fall von Ismail I. spielte der Hass auf das Assad-Regime eine starke Rolle. So schilderte er es im Gericht, auch dem psychiatrischen Gutachter stellte er seine Geschichte so dar. Dieser Hass allein hat ihn aber noch nicht von Stuttgart, wo seine Familie schließlich Fuß gefasst hatte, nach Syrien getrieben. Die große Krise sei gekommen, als er eigentlich auf dem Weg in ein besseres Leben war: Er lernte vor sechs Jahren eine Frau kennen, heiratete, sie erwarteten ein Kind. Doch dann verloren sie das Baby. An dieser Stelle sagte Ismail I. gleich am ersten Prozesstag etwas, einen Schlüsselsatz, der die Wende in seinem Leben beschrieb: „Damit hat alles begonnen, da war ich sehr demoralisiert, Herr Richter, das müssen Sie einfach wissen!“ Er sei Augenzeuge der Tragödie gewesen, er sei beim Abgang des Kindes im Zimmer gewesen – „es war furchtbar, alles voller Blut“.

Die Familie seiner Frau habe ihm schwere Vorwürfe gemacht, die Beziehung ging in die Brüche, das Leben geriet aus der geraden Bahn. Der junge Mann brach das Berufskolleg ab, jobbte mal beim Bäcker, mal im Fast-Food-Restaurant, er nahm Drogen: Marihuana, Speed, Ecstasy. Irgendwann stellt er sich die Frage nach dem Sinn des Lebens und sucht eine Moschee auf – obwohl er zuvor kein stark religiös geprägtes Leben geführt hatte.

Vom Verlierer zum Gotteskrieger

Junge Männer mit Sinnkrisen und dem Gefühl, nicht dazuzugehören, jugendliche Intensivtäter, die sich schon früh im Leben als Gescheiterte sehen: diese Klientel ist den Erkenntnissen der Staatsschützer zufolge besonders anfällig dafür, sich in salafistisch geprägten Moscheen oder von dieser Strömung beeinflussten Gemeinden auf den vermeintlich rechten Weg schicken zu lassen. „Der Salafismus bringt ein Korsett, das Halt gibt und das vorher nicht da war. Man muss sich um nichts mehr kümmern, sondern bekommt klar gesagt, was richtig und falsch ist“, sagt Martin Lang. Solche klaren Botschaften helfen den zweifelnden jungen Leuten, locken sie.

Es muss nicht der Gang in die Moschee sein, es gibt verschiedene Wege, um in Kontakt mit den Extremisten zu treten: Die Polizei nennt die Bereiche Szene, sozialer Nahbereich und das Internet mit den sozialen Netzwerken. Die Szene, das ist das Umfeld der Moschee mit Seminaren, Pilgerreisen, Predigten. Der Nahbereich können Freunde, Familie oder auch – bei straffällig gewordenen jungen Leuten – die Gefängniscliquen sein. Im Internet führt ein Klick zum nächsten. Liveberatungen etwa leiten hin zum „gottgefälligen“ Leben, wie es der salafistischen Lehre entspricht, und helfen, einschneidende Erlebnisse wie der Tod des Babys oder die Trennung von der Ehefrau zu verarbeiten.

Ismail I. hat in der Moschee in Bad Cannstatt den Rat bekommen, auf eine Pilgerreise nach Mekka zu fahren. Der Religion wieder zugewandt nach der Phase des Zweifelns, nahm er diesen Rat an. Vor Ort lauerten schon die Seelenfänger: Ismail I. wurde angesprochen, bekam Telefonnummern. Die ersten Kontakte zum IS und auch zur Salafistenszene um die Hassprediger Pierre Vogel und Sven Lau in Köln waren geknüpft. Er fuhr dorthin, besuchte einen jungen Mann, in dessen Wohnung Sven Lau ein und aus ging und der nun neben ihm in Stuttgart auf der Anklagebank sitzt.

30 Kämpfer aus dem Land sind nach Syrien aufgebrochen

Die beiden wurden zusammen festgenommen. Für Ismail I. sollte es damals die zweite Reise nach Syrien werden. Er hatte keine gute Erinnerung an die erste. Im Ausbildungscamp hatte er eine Verletzung vorgetäuscht, um wieder nach Hause fahren zu können. Mit viel Geld ausgestattet und dem Versprechen, mit Ausrüstung zurückzukehren, verabschiedete er sich. Er wollte zurück zur Mutter. Doch mit dem vielen Geld in der Tasche flog er zunächst nach Amsterdam, Drogen und Prostituierte lockten. Ein Bruch – so lebt ein Salafist nicht. Auch seine Aussage, er habe dann in Stuttgart wieder mit dem Feiern und den Drogen begonnen, passt nicht ins Bild des nach strengen Regeln lebenden Gotteskriegers.

In Stuttgarts Moscheen – die Polizei glaubt zu wissen, welche salafistisch sind oder dazu tendieren – werde nicht dazu aufgerufen, in den Dschihad zu ziehen, sagen die Staatsschützer. Ihnen sei kein Fall bekannt, in dem der Nachwuchs salafistischer Familien anfällig gewesen sei für das Anwerben als Gotteskrieger. Was jene jungen gefährdeten Männer antreibe, sei die Anerkennung, der sichere Platz im neuen Umfeld. „Sie sind dann endlich wer“, sagt Martin Lang.

600 Kämpfer aus Deutschland, so schätzt man, sind schon nach Syrien aufgebrochen, 30 aus Baden-Württemberg. Einige sind im Kampf gestorben. Im Internet fanden die Ermittler Fotos, die das belegen. Mit rund 200 Rückkehrern rechnet die Polizei aktuell. „Aber wir wissen es ja nicht. Es meldet sich hier keiner ab und wieder an, meist erfahren wir erst etwas, wenn die Familien kommen und die Söhne als vermisst melden“, sagt Martin Lang. Bei Ismail I. wusste die Familie, wo er war. Mit Fotos der krebskranken Mutter lockte ihn der zehn Jahre ältere Bruder Ezzeddine zurück nach Stuttgart. Doch auch das Leid der geliebten Mutter hielt ihn nicht von der zweiten Reise ab.

Nun sitzt Ismail I. in Untersuchungshaft, das Urteil wird für Freitag erwartet, könnte sich aber noch verschieben, weil von der Verteidigung ein weiterer Beweisantrag eingereicht wurde. Nach dem Willen der Ankläger soll Ismail I. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung fünf Jahre in Haft. Für die beiden anderen Angeklagten werden dreieinhalb und drei Jahre Freiheitsstrafe gefordert.

Während des Prozesses hat der Hauptangeklagte Ismail I., den ein psychiatrischer Gutachter als unfertige Persönlichkeit bezeichnet, eine Verbindung zur Familie – über den Bruder, der ebenfalls angeklagt ist, weil er Geld für den IS besorgt haben soll. Da er auf freiem Fuß ist, kommt so ein wenig Normalität auf. „Wie geht es der Mama?“, fragt Ismail I. jedes Mal, wenn er in Handschellen neben seinen Bruder zur Anklagebank geführt wird. Nach Syrien, das hat er vor Gericht mehrfach gesagt, will er nicht mehr. Aber zurück zu seiner Familie.