Im Festsaal von Rishon Letzion hält der Pate das Baby auf dem Schoß und spreizt seine Beinchen. Mit einer Flüssigkeit betäubt Fleischman das Glied und vollzieht dann die Beschneidung. In Israel ist das Ritual der „Brit Mila“ noch weitgehend unangetastet.

Tel Aviv - Die Gäste im Festsaal der Stadt Rishon Letzion südöstlich von Tel Aviv sind guter Stimmung. Große Ballons in Form von Schnullern, die von der Decke hängen, künden von der bevorstehenden Beschneidung. Der Gastgeber Eli Kalderon hat auf Anweisung des Beschneiders Menachem Fleischman alles vorbereitet: zwei Gebetsschals, zwei Babyunterhosen, ein Kopfkissen, eine antiseptische Salbe zur Wundheilung. Kalderon ist aufgeregt, aber überzeugt, dass sein Neugeborener in guten Händen ist, denn Fleischman hat auch seinen ersten Sohn beschnitten. Pünktlich erscheint der 61-jährige Rabbi an diesem Nachmittag in Begleitung des Beschneidungsanwärters Moshe Stern. Fleischman ist auch regionaler Kontrolleur der Beschneider im Auftrag des Oberrabbinats. Seinen Beruf nahm er an, nachdem ihn der legendäre Mentor der Chabad-Dynastie, Menachem Mendel Schneerson, dazu gesegnet hatte, dessen Bild und Unterschrift seine Visitenkarte zieren.

 

Israel ist das Land der Beschneidung. 98 Prozent der Juden und fast alle Muslime werden beschnitten, die jüdischen Kinder fast immer am achten Tag, die meisten muslimischen am siebten. Nur eine kleine, aber wachsende Gruppe überzeugter Atheisten lehnt die Beschneidung ab. Einige von ihnen lassen sich vom Passauer Juristen Holm Putzke informieren, der sich seit Jahren für die Kriminalisierung der religiösen Beschneidung einsetzt.

440 Männer beschneiden die Säuglinge

Für den Eingriff sind 400 vom Oberrabbinat autorisierte Beschneider zuständig – alles religiöse Juden, 20 von ihnen Ärzte. Das Gesundheitsministerium ist für weitere 40 beschneidende „unkoschere“ Ärzte zuständig. Seit Beginn der Einwanderungswelle aus den GUS-Staaten 1990 führen immer mehr Ärzte Beschneidungen bei erwachsenen Immigranten (unter Vollnarkose) durch, inzwischen auch bei Neugeborenen säkularer Juden. Ärzte dürfen eine lokale Betäubung spritzen, Beschneider nicht. Auch deswegen bevorzugt jeder sechste Israeli eine ärztliche Beschneidung.

Im Festsaal dröhnt orientalische Musik, manche Gäste klatschen, während Fleischman auf einem Tisch seine rituellen Werkzeuge vorbereitet: das Schild („Magen“), mit dem er die Vorhaut zieht und zugleich das Glied während der Beschneidung schützt; das zweischneidige Messer, mit dem er die Vorhaut durchschneidet; das Metall-Skalpell („Mafrid“), mit dem er die Vorhaut entfernt; und das sterile Glasröhrchen, mit dem er einige Blutstropfen saugt. Die Flasche koscheren, süßen Rotweins dient ihm zum Segnen und zur Beruhigung des Babys, das er auf ein weißes Kissen legt und seinem Vater überreicht. Dieser liest das traditionelle Gebet vor, in dem er Gott für seinen Sohn dankt. Jetzt setzt sich der Pate mit dem Baby auf seinem Schoß auf den großen Lehnstuhl. Die Beschneidung (Hebräisch: „Brit Mila“ oder Bund des Wortes) kann beginnen.

Bis vor wenigen Jahren war die Brit, die Juden seit Jahrtausenden praktizieren, der kleinste gemeinsame Nenner der jüdischen Israelis. Als 1997 der Verein gegen die Beschneidung gegründet wurde, war der Genetiker Avshalom Zoosmann-Diskin einer dieser wenigen Exzentriker. Er klagte in 20 Fällen wegen des Verstoßes gegen die Menschenrechte. Das Gericht lehnte die erste Klage gegen den Gesundheitsminister ab, der medizinische Behandlungen durch nicht zugelassene Ärzte unterbinden sollte. Die Beschneidung sei ein religiöser und kein medizinischer Akt, so die Begründung, und müsse daher nicht nur von Ärzten durchgeführt werden. Die Beschneidung schade dem Baby nicht, sondern helfe ihm, weil sie die Norm sei. Auch die anderen Klagen wurden abgeschmettert. So groß war der Konsens in Israel damals, dass der Philosoph Hanoch Ben-Yami, der 1999 in einem Aufsatz zum Ende der „gefährlichen“ Beschneidungen aufrief, nach nur wenigen Monaten seinen Sohn beschneiden ließ – aus Angst vor Ablehnung in einem Land, in dem damals nur ein Dutzend Israelis die Brit ablehnten.

Heute sind es Abertausende, auch dank der kritischen TV-Dokumentation von Ari Libsker, „Brit Mila“, die in Israel erst nach Mitternacht ausgestrahlt wurde. Seit das Video ins Netz gestellt wurde, beeinflusst es vor allem gebildete, säkulare Israelis. Libsker sagt, dass die Beschneidung die Sexualität des Mannes beeinträchtigt. „Das Recht der Kinder ist wichtiger als das Recht auf Religionsfreiheit.“ Mehrere Ärzte teilten seine Ansicht, aber keiner traute sich, das vor der Kamera zu sagen – aus Angst vor den Krankenhausdirektoren. „Die Religiösen haben bis heute sehr viel Einfluss dort, denn ein Ultraorthodoxer leitet das Gesundheitsministerium, und die Ärztevereinigung befürwortet die Beschneidung.“

„Ein Damm ist gebrochen“

Nicht jedoch Ronit Tamir. Die Computeringenieurin gründete im Jahr 2000 zusammen mit vier Familien die Organisation Kahal („Eltern vollständiger Kinder“) als Beratungsstelle für Unbeschnittene. Ihren Sohn ließ sie nicht beschneiden, weil sie dies für gefährlich hält, um seine Sexualität nicht zu beeinträchtigen und um seinen Körper unversehrt zu lassen. Aber Betroffene kamen nicht. Daher berät Kahal seither Eltern, die unsicher über die bevorstehende Beschneidung ihres Sohnes sind. „Am meisten befürchten sie die Ablehnung der Großeltern.“ Seit 2008 aktualisiert sie die Liste der Unbeschnittenen nicht mehr, denn „ein Damm ist gebrochen“.

Auf die zunehmende Kritik präsentiert das Oberrabbinat beeindruckende Zahlen. „Bei nur 54 Eingriffen von rund 50 000 Beschneidungen im Jahr 2011 tauchten Probleme auf“, sagt Vorsitzender des Kontrollausschusses Eli Schussheim, selbst Chirurg und Beschneider. „Bei nur einem Fall musste man nachoperieren. Bei Ärzten, die nur jede sechste Beschneidung – mit lokaler Betäubung – durchführten, zählte man 19 Komplikationen.“ In vier Krankenhäusern werden zudem jährlich Hunderte von Erwachsenen durch Ärzte beschnitten – unter Vollnarkose. Das sind Konvertiten und ältere Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, wo die Beschneidung verpönt war. Agnostiker Libsker erfuhr in seinen Recherchen, dass die Kinder bei ärztlicher Beschneidung viel mehr schrien als bei traditionellen Beschneidern, weil die Spritzen sehr schmerzhaft seien und die Beschneider viel erfahrener.

Der orthodoxe Chirurg Ran Avidan ließ sich noch zusätzlich zum Beschneider ausbilden. „Meine Frau war schwanger und ich wollte meinen Sohn selbst beschneiden“, erzählt er schmunzelnd. „Nur sie wusste von meiner Ausbildung und unterstützte mich dabei. Es ist ein wichtiges biblisches Gebot.“ Zitterten seine Hände bei der allerersten Brit? „Überhaupt nicht. Meine Frau stand neben mir. Das Blut saugte ich direkt, obwohl dies mein Gesicht befleckte, wie auch bei meinen anderen beiden Söhnen. Bei allen anderen Kindern verwende ich das Röhrchen, weil das sicherer ist.“

Die Mutter hat nicht hinsehen können

Im Festsaal von Rishon Letzion hält der Pate das Baby auf dem Schoß und spreizt seine Beinchen. Mit einer Flüssigkeit betäubt Fleischman das Glied und vollzieht dann die Beschneidung. Dies dauert nur eine Minute, das Baby weint, sein Vater spricht den Segen vom Eintritt des Kindes in den Bund Abrahams. Nach einer weiteren Minute wird das Baby still, „ohne Spritze“, kommentiert Fleischman stolz. In 35 Jahren hat er Tausende jüdische Kleinkinder beschnitten, fast immer an ihrem achten Lebenstag. Jetzt gießt er Rotwein in ein Glas, segnet das Baby und verkündet zum ersten Mal seinen Namen: Itamar. Dann singt er „Mazel Tov“ und alle klatschen.

Eine Woche später ist klar: der Eingriff ging gut. Itamars Mutter Rinat gesteht: „Es fiel mir etwas schwer, den Eingriff zu sehen, daher stand ich nicht daneben. Aber an der Brit habe ich niemals gezweifelt, denn das ist unsere Tradition.“