65 Kilometer in vier Tagen: Auf dem Jesus-Trail von Nazareth nach Kapernaum erlebt man Zeichen und Wunder, sogar im Alter von 90 Jahren.

Moschav Arbel - Wieder einmal gabelt sich der Weg. Merrill Ohlson nimmt einen Schluck Wasser aus der Thermoskanne, die er sich ans Handgelenk gebunden hat. Merrill, ein Kalifornier aus San Diego, ist 90 Jahre alt. Die Suche nach dem rechten Pfad überlässt er den Jüngeren, die im Gewächs nach dem Richtungsweiser stochern. Als ältester Teilnehmer überhaupt, der sich je auf den "Jesus-Trail" von Nazareth nach Kapernaum begeben hat, gönnt er sich eine Verschnaufpause.

 

65 Kilometer in vier Tagen, das ist mehr als ein Spaziergang. So reizvoll die Strecke durch Wald und Feld entlang biblischer und historischer Stätten ist, sie hat ihre Tücken. Die Wiesen sind nass. Kein Wanderschuh, der nicht mal im Morast versinkt. Merrill kratzt mit seinem ausziehbaren Stock die getrockneten Dreckkrusten von den Sohlenrändern. "Dieser Matsch macht die Füße ganz schön schwer", sagt er. Abgesehen davon findet er die Strecke "nicht so schwierig". Aus seinen himmelblauen Augen im zerfurchten Gesicht leuchten Abenteuerlust und Vertrauen in Gottes verschlungene Wege.

Auch den Stein mit den aufgemalten weiß-gelb-weißen Streifen, die die Route anzeigen, hat das Frühlingskraut überwuchert. Doch da ist das gesuchte Zeichen! Merrill rückt den Rucksack zurecht und fällt in seinen Trippelschritt. "Bleib in Bewegung, das hält jung." Daheim in San Diego hält er zweimal die Woche Bibelstunde und sorgt als Hausmeister im Biblischen Kolleg, wo er kaputte Glühbirnen auswechselt, für konstante Erleuchtung.

Gottes verschlungene Wege haben ihre Tücken

Auch auf dem Jesus-Trail erweist sich Merrill als guter Geist der zusammengewürfelten Truppe. Zu ihr gehören außer ihm: zwei Ehepaare mittleren Alters aus England, ein passionierter Naturliebhaber aus Rom, ein streng dreinblickender Evangelist aus Kansas, eine deutsche, nicht gerade bibelfeste Journalistin sowie Michael aus Australien, mit 23 Jahren der Jüngste.

Es ist Tag drei auf dem Jesus-Trail. Die Sonne lacht zwischen weißen Wattewolken, ein laues Lüftchen weht. Durch saftig grüne Weiden windet sich der Pfad zu den Hörnern von Hattin. Eine steinige Anhöhe mit zwei Gipfeln, die einen prächtigen Panoramablick bieten. Zeit für die Mittagsrast und eine Debatte, wo Jesus vor 2000 Jahren nun wohl persönlich gewandelt sei. Mary, die Britin, meint, dass Jesus sicher über die römische Straße gelaufen sei, die wir uns am feuchten Morgen erspart haben. Zu verschlammt war es zwischen den Steinen, den Überbleibseln vom Straßenwerk des Römischen Imperiums. Stefano derweil schwelgt in der Vorstellung der Entscheidungsschlacht, die sich 1187 zwischen der französischen Kreuzfahrerarmee und den am Ende siegreichen Truppen des moslemischen Feldherrn Saladin vor den Hattin-Hörnern abgespielt hat.

Die Motive, sich auf den Jesus-Trail zu begeben, sind vielfältig. Manche wollen den Kopf durchlüften, andere "Jesus als Menschen erleben". "Auf unseren Fragebögen", erzählen die Organisatoren, "wird oft alles gleichzeitig angekreuzt: geschichtliche, religiöse wie interkulturelle Interessen." Das kommt der Idee hinter dem Jesus-Trail entgegen: abseits des Massenpilgertums individuelle Begegnungen mit Land und Leuten zu ermöglichen.

"Ich fühle mich von Gott gesegnet"

So wird die erste Nacht unterwegs in einer arabischen Gastfamilie in Kana verbracht. Die Unterkunft in den mit Nippes ausstaffierten Mehrbettzimmern ist bescheiden. Umso reichhaltiger ist das Menü aus Salaten, Kebab und dem palästinensischen Nationalgericht Maklube, das die resolute Suad Bellan (59) auftischt. Außerdem wird man in der Früh um sechs vom Ave-Maria-Glockenspiel aus der katholischen Hochzeitskirche nebenan geweckt: erbaut über den Ruinen, wo Jesus der Legende nach sein erstes Wunder vollbrachte und ein Brautpaar vor der Blamage rettete, indem er Wasser in Wein verwandelte.

Die zweite Etappe endet in der Idylle einer Ziegenfarm, unterhalten von einem Aussteigerpaar aus Tel Aviv. Das dritte Ziel, Moschav Arbel, eine israelische Kooperative, wartet wiederum mit komfortabler Gästepension samt Pool auf. Sarah und ihr Mann Yisrael schnibbeln fürs Dinner, als der ermattete Vortrupp anlangt. Er hat am Ende die Abkürzung über die Asphaltstraße der weitläufigen Route durchs lauschige Tal vorgezogen. Das Erlebnis, von den Hattin-Hörnern durch ein gelbes Blumenmeer hinabzusteigen, war ohnehin nicht zu toppen. Und morgen ist schließlich noch ein Wandertag, die letzte Etappe, aber auch die gewagteste. Es gilt, die Arbel-Klippen, die 400 Meter steil abfallen, hinabzukraxeln. Der Blick in die Tiefe lässt zweifeln, ob Jesus sich je auf eine solche Kletterpartie begeben hätte, zumal es eine attraktive Alternative um den Berg herum gibt.

Die Endstation rückt nahe: die Brotvermehrungskirche in Tabgha am See Genezareth, wo Jesus fünftausend gespeist haben soll, dahinter der Berg der Seligpreisung und schließlich Kapernaum mit dem aus schwarzen Basaltsteinen erbauten Franziskanerkloster und den Ruinen der Weißen Synagoge. Der unglaubliche Merrill tippelt die letzten Kilometer wie ein Maschinchen, mit kurzen, unaufhaltsamen Schritten. "Ich fühle mich von Gott gesegnet", sagt er, als er sich endlich auf einer Bank in der schattigen Kapernaum-Anlage niederlässt. Einige Pilger, die hier in ganzen Busladungen angespült werden, blicken mitleidig bis verwundert auf die verschlammten Wanderschuhe und Hosenbeine des Alten. Merrill Ohlson zwinkert mit seinen blauen Augen. Ihm kann nichts mehr etwas anhaben. Er ist am Ziel seines Lebens angelangt.